Warum Gleichberechtigung nicht Gleichbehandlung bedeutet
Der Besuch bei Ärzt*innen kann eine Herausforderung sein – vielleicht machst du dir schon länger Sorgen, hast Schmerzen oder dich mit letzter Kraft für die Krankschreibung in die Praxis geschleppt. Du fühlst dich verletzlich. Und du bist abhängig – dein Vertrauen liegt in der Expertise deiner Behandler*innen. Sie werden wissen, was zu tun ist. Sie können deine Symptome richtig deuten. Deinen Körper behandeln, deine Schmerzen lindern. Aber was passiert, wenn deine Ärzt*innen einen Fehler machen? Wenn die Erfahrung ihnen sagt, dass das, was du beschreibst, ungefährlich ist? Dass du übertreibst? Während es dir schlechter und schlechter geht, sieht niemand einen Anlass zum Handeln? Und das nur, weil sie eins übersehen.
Du bist eine Frau.
›Gender health gap‹
Jahrelang wurde in der medizinischen Forschung überwiegend an einem einzigen Körpertypus geforscht. Die weiße, männliche Anatomie galt als Norm und vorherrschendes Modell, sowohl in Lehrbüchern als auch bei der Diagnostik und Behandlung. Ignoriert wurde alles, was zwar typisch war, aber eben ›nur‹ für Frauen. Und intergeschlechtliche, nicht-binäre oder Trans*Personen kommen in der Forschung quasi gar nicht vor. Fem*med, eine Arbeitsgemeinschaft der medizinischen Fachschaft an der CAU, berichtet, dass diese zwischen 2018 und 2022 in nur 0,08 Prozent der klinisch internationalen Studien überhaupt mit eingebunden wurden. Warum? Mysteriöse Menstruationszyklen, hormonelle Unterschiede oder Wirkungen von Medikamenten in den Körpern von Millionen Menschen, schienen zu kompliziert für eine reliable Forschung. Statt besser zu untersuchen, wurden die Befunde von männlichen Probanden einfach generalisiert. Das hatte zum Teil tödliche Folgen. Die Symptome eines Herzinfarkts zeigen sich beispielsweise bei weiblichen Körpern symptomatisch anders als bei den männlichen – also dem, was Medizinstudierende typischerweise lernten.
›Gender data gap‹
Das Patriarchat macht auch vor der Medizin nicht halt. Studien zeigen, dass Frauen länger auf Diagnosen oder schmerzlindernde Maßnahmen warten, sie werden eher entlassen oder fehldiagnostiziert. Noch in der Impfforschung zu COVID-19 gab es in vielen Untersuchungen mehrheitlich männliche Probanden. Über Erkrankungen, die überwiegend Frauen betreffen oder sich unterschiedlich äußern, wie Endometriose oder ADHS, bestehen in der Forschung häufig noch Wissenslücken. In Interviewstudien vertraten männliche Ärzte teilweise Ideen der schwer zu behandelnden, »hysterischen« Frau – eine Vorstellung, die nicht nur falsch, sondern auch potenziell gefährlich ist. »Patient*innen erzählen mir regelmäßig, wie sie nicht ernst genommen wurden – weil sie zu jung, zu dick, zu laut oder ›zu weiblich‹ seien«, berichtet der Arzt Dr. Mertcan Usluer aus seiner gynäkologischen Arbeit. Dazu kommt der Kapitalismus – nach Angaben von Fem*Med kostete das Schmerzmittel Buscopan Plus bei gleichem Wirkstoff in der pinken Verpackung zunächst 17 Prozent mehr.
Die Forschung ist männlich
Der gender bias betrifft auch die Wissenschaft. Empirische Arbeiten weiblicher Forscherinnen werden in den Gesundheitswissenschaften weniger zitiert und gefördert. Gleichzeitig weisen die deutschen Antragsrichtlinien für Fördermittel im Gesundheitswesen auch selten auf die Berücksichtigung von allen Geschlechtern hin. In den 1960er und 70er Jahren entstand aus der internationalen Frauengesundheitsbewegung die geschlechtssensible Medizin und führte zu einem Paradigmenwechsel – oder sollte es zumindest. Erst in den 1990er Jahren wurde offiziell anerkannt, dass Frauen in klinischen Studien eingebunden und berücksichtigt werden müssen. Obwohl die Gendermedizin heute mehr in den Fokus rückt, bleibt es im Studium meist ein Wahlfach. An den Universitäten gelten dazu noch keine Standards, nur wenige forschen aktiv. »Medizin-Ausbildung heute? Oft ein safe space für Cis-Männer mit Gottkomplex«, beschreibt es Dr. Usluer. Auch Widerstand aus den veralteten Strukturen der Ärztekammern ist weiterhin ein Hindernis. Obwohl Medien mehr über dieses Thema berichten, es deutlich mehr Aktivismus und Aufklärungsarbeit gibt und erste Universitäten, wie Prof. Dr. Sylvia Stracke in Greifswald oder die Lehrstühle in Bielefeld und Berlin, sich der Gendermedizin widmen, gibt es Nachholbedarf.
Die Variable Geschlecht und noch mehr gaps
Das systematische Einbeziehen von Geschlechteraspekten in der Gesundheitsforschung – mangelhaft. Dass sowohl ›sex‹ (physisch-biologisches Geschlecht) als auch ›gender‹ (soziokulturelle und psychosoziale Geschlechtsidentitäten) sozial konstruiert sind und unser Verständnis davon einem stetigen Wandel unterliegen, scheint nicht etabliert. Es herrscht viel Unsicherheit bis Ablehnung, sowohl in der Forschung als auch in der medizinischen Praxis. Wir alle kennen das Aufwachsen mit diesen Schubladen. Es gibt Männer, es gibt Frauen, Ende der Geschichte. Es gibt Krankheiten, es gibt Symptome, Behandlung, fertig. Die Realität ist jedoch komplexer und individueller. Geschlechter und Körper sind vielfältig. Sie lassen sich nicht in zwei einfache Kategorien pressen, sie reagieren nicht alle gleich und sehen nicht alle wie das Abbild in einem Lehrbuch aus. Von Wissenschaftler*innen könnte Mensch erwarten, dass sie versuchen, alle möglichen Variablen zu berücksichtigen. Aber – »es gibt einen Graben«, sagt der Arzt und Journalist Dr. Usluer. Dieser ziehe sich durch fast alle Fachbereiche und beeinflusse Leitlinien und Behandlungen. »Wer nicht in die binäre Geschlechterschublade passt, wird systematisch ignoriert. Und das in einem Bereich, der vorgibt, objektiv und evidenzbasiert zu sein.«
Queere Gesundheit
Für Frauen kann der Besuch bei Ärzt*innen schon belastend sein. Wie aber geht es Menschen, die in vielen medizinischen Lehrbüchern gar nicht vorkommen? »Trans*Menschen berichten von misgendernden Arzthelfer*innen oder invasiven Fragen, die nichts mit ihrer medizinischen Behandlung zu tun haben. Inter-Personen erleben pathologisierende Diagnosen und Behandlungen ohne Aufklärung«, antwortet Dr. Usluer. Im Deutschen Ärzteblatt wird auch von Fehlinterpretationen der Laborbefunde von Menschen in Transition und größerer Angst, überhaupt in Behandlung zu gehen, berichtet. Eine Befragung zur Lebenssituation in Schleswig-Holstein in 2019 zeigt, dass sich viele queere Personen medizinisch nicht kompetent beraten fühlten. Trans*Personen hätten sowohl unsichere als auch negative Reaktionen erlebt, indem ihre Identität zum Beispiel von Ärzt*innen als Krankheit bezeichnet wurde. Es scheint, als gäbe es hier einen deutlichen Schulungsbedarf bei den Fachkräften.
Dabei wäre eine angemessene Versorgung gerade für queere Menschen so wichtig, da sie durch Stigmatisierung und Diskriminierungserfahrungen häufig große psychosoziale Belastungen erleben und ebenso durch die wenige Forschung gefährdeter für bestimmte Erkrankungen sind. In der LGBTQIA+-Community sei das Risiko für Herzerkrankungen doppelt so hoch wie in der übrigen Bevölkerung, gibt Fem*Med an. Gegner*innen einer fortschrittlichen Wissenschaft zur Geschlechterforschung verweisen hier gerne auf eine Minderheit der Betroffenen. Aber Menschen sind eben keine Zahlen – sie zählen. Und hinter diesen Daten steht immer ein Individuum mit Ängsten und Zweifeln, Wünschen und Hoffnungen, ein Mensch, der es verdient hat, mit Respekt behandelt zu werden. Der es verdient hat, dass der eigene Körper kein untypisches Problem für die Forschung darstellt. Niemand sollte unsichtbar sein, wenn es um Gesundheit geht.
Unterstützungs- und Aufklärungsangebote:
Fem*Med–AG der Fachschaft Medizin in Kiel, die sich intersektional feministisch gegen Sexismus und jegliche Art der Diskriminierung einsetzt, wo ihr Workshops und Kontaktangebote findet. Aktuell setzt sich Fem*Med auch dafür ein, dass an der CAU ein Wahlfach für geschlechtssensible Medizin angeboten wird
Queermed sammelt Empfehlungen für queersensible Ärzt:innen
Gynaekollege auf Instagram klärt „Dr. Mertci“, Arzt & Journalist rassismuskritisch, inklusiv und intersektional über Medizin auf
HAKI e.V. in Kiel ist ein Treffpunkt für Menschen aus der LGBTQIA+-Bewegung
Queerstudentsgroup (qsg) der CAU trifft sich regelmäßig für queeres Miteinander
Clara ist seit dem WiSe 2024 beim ALBRECHT dabei und studiert Psychologie im Master. Neben allen Themen rund um die Psyche interessiert sie sich für Lyrik und Feminismus.