Vom einstigen Trump-Gegner zum eifrigen Anhänger. J.D. Vance’ unbedingter Wille zur Macht

Heute entscheidet sich, wer künftig das mächtigste Land der Welt anführen wird. Nach dem kurzfristigen Rückzug Joe Bidens von der Präsidentschaftskandidatur der Demokraten im Sommer konnte Kamala Harris als designierte Nachfolgerin qua Vizepräsidentenamt, eine Welle der Euphorie lostreten. Der »Brat Summer« ließ Donald Trump im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen. Hinzu kam, dass ein Pop-Superstar nach dem anderen sich für Kamala Harris aussprach. Die Umfragewerte der Demokraten entwickelten sich gut und der Weg für die erste Frau ins Weiße Haus schien geebnet zu sein. 

Doch der Sommer ist mittlerweile vorbei und wurde durch einen stürmischen Herbst abgelöst, der den Wahlkampf noch einmal durcheinanderwirbelte. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen ist wahrscheinlich. Wie so häufig könnten wenige zehntausend Stimmen in ein paar Swing-States die Wahl entscheiden. Die Gefahr einer Rückkehr Donald Trumps ins Präsidentenamt ist erschreckend real. Daher ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um sich mit dem republikanischen Vizepräsidentschaftskanditaten J.D. Vance auseinanderzusetzen. Die Nachzeichnung seiner Geschichte möchte versuchen zu erklären, wie er zu dem geworden ist, was er jetzt ist und was in der Zukunft von ihm erwartet werden kann. 

Um die Ursache von Vance’ unbedingtem Willen zur Macht zu ergründen, müssen seine Kindheit und Jugend genauer betrachtet werden. Die wesentliche Quelle hierfür wird Vance’ Bestseller Hillbilly-Elegie sein. Im Jahr der Veröffentlichung des Buches fand eine breite Rezeption statt, da es die Krise der amerikanischen Unterschicht beschreibt, die zu Trumps Aufstieg beigetragen hat. Eine erneute Beschäftigung acht Jahre später lohnt sich, denn es hilft ungemein dabei den Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten zu verstehen. 

Der Niedergang der amerikanischen Arbeiter*innenschicht 

James David Vance ist in Middletown, Ohio, in prekären Verhältnissen aufgewachsen. Seine Familie stammt von Ulster-Schotten ab, die in den Appalachen von Kentucky zu Hause sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten seine Großeltern ihr Glück in der wachsenden Stahlindustrie von Ohio. Sie wollten vor der bitteren Armut ihrer Heimat fliehen. Dies gelingt ihnen auch, denn in einem Stahlwerk findet sein Großvater Arbeit und es kommt zu einem wirtschaftlichen Aufstieg. 

So eine Geschichte ist typisch für viele Bewohner des »Rust-Belts«, der Gegend im Nordosten der USA, die durch schwere und große Industrie geprägt ist. Die wichtigen »Swing-States« Pennsylvania und Michigan liegen in Hinblick auf die kommende Wahl genau in diesem Gürtel. Insbesondere Pennsylvania mit seinen 19 Wahlleuten für das Electoral College ist das Zünglein an der Waage. Von den sieben Staaten mit einem als offen eingestuften Wahlausgang ist Pennsylvania der mit den meisten Wahlleuten. 

Die Globalisierung und die mit ihr einher gehende Konkurrenz aus dem Ausland führt zum ökonomischen Niedergang der alten Industrie Ohios. Der junge J.D. Vance erlebt hautnah mit, wie immer mehr Wohngegenden verkommen. Seine eigene familiäre Situation ist zu dem Zeitpunkt nicht besser. Die ständig wechselnden Partner der Mutter sorgen für Instabilität und Streit. Irgendwann wird seine Mutter auch noch abhängig von Schmerzmitteln. Für eine kurze Zeit zieht er deswegen zu seinem Vater, der ein gläubiger Evangelikaler ist. Dort kommt Vance das erste Mal mit dem christlichen Glauben näher in Kontakt. Rock-Musik wird von den Evangelikalen ebenso abgelehnt, wie die darwinsche Evolutionstheorie, doch die fürsorgliche Gemeinschaft der kirchlichen Gemeinde fasziniert Vance. Viele Jahre später wird er sich dem Katholizismus hinwenden. Eines seiner Vorbilder ist der Kirchenvater Augustinus, seine politischen Positionen beziehen sich auf die katholische Soziallehre. Dazu ist er als strenger Gegner von Abtreibungen bekannt. 

Das Milieu in dem Vance groß geworden ist, wird auch abfällig als »white trash« bezeichnet. In seinem näheren familiären Umfeld hat niemand an einem College studiert. Drogenabhängigkeit und Armut durchziehen die Nachbarschaft in der Vance aufwächst. Ebendiese weiße Unterschicht verhalf Donald Trump 2016 ins Weiße Haus. Das rüpelhafte Verhalten Trumps sprach damals viele an, es erinnerte an seine Reality-Show The Apprentice. Gepaart mit einer scharfen Anti-Establishment Rhetorik und dem Versprechen die illegale Migration zu stoppen, entstand so die Make-America-Great-Again Bewegung (abgekürzt MAGA-Bewegung), die bis heute das Rückgrat von Trumps Kampagne ist und ihm die erneute Präsidentschaftskanditatur in den innerparteilichen Vorwahlen sicherte. 

Der Aufstieg beginnt ganz unten

Die prägendste Figur in Vance‘ Kindheit und Jugend war seine Großmutter, die im Hillbilly-Dialekt bloß »Mamaw« genannt wurde. Wo das Leben bei seiner Mutter Chaos, Streit, Unsicherheit und Drogenmissbrauch bedeutete, erlebte er dagegen bei seiner Großmutter, einer hartgesottenen alten Hillbilly-Frau, einen Ort der Stabilität und Geborgenheit. Irgendwann entschied Vance sich, zu ihr zu ziehen und dies läutete die Wende in seinem Leben ein. Die Großmutter brachte Vance bei, dass die Schule das Wichtigste sei, was dazu führte, dass seine Leistungen mit der Zeit besser wurden. Wenn er seine Hausaufgaben vernachlässigte, bekam er einen Einlauf, doch sie förderte ihn auch, beispielsweise indem sie von ihrem Ersparten einen teuren Taschenrechner für ihn kaufte. 

Nach der Highschool entschloss Vance sich dazu, zu den Marines zu gehen, um nach eigener Einschätzung erwachsen zu werden. In dieser Zeit war er für sechs Monate im Irak, wo er für die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des US-Militärs im Einsatz war. Er begleitete Soldat*innen im Einsatz und arbeitete mit Medienvertreter*innen zusammen, um die Außendarstellung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges positiv zu beeinflussen. In den strukturkonservative Appalachen, der Heimat der Großeltern, bekam er für seinen Dienst beim Militär große Anerkennung. 

Das Studium führte ihn nach Columbus an die Ohio State University, eine staatliche Hochschule, wo er Politikwissenschaften und Philosophie studierte. Nebenbei arbeitete er für Bob Schuler, einen republikanischen Abgeordneten im Senat von Ohio, bei dem er erste politische Erfahrungen sammeln konnte. Vance selbst beschreibt sich in Hillbilly-Elegie als konservativen Menschen. 

Das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen und Armut, könnte einen zu der Schlussfolgerung verleiten, dass Vance eigentlich linke Positionen vertreten müsste, die für eine Beseitigung der Missstände durch soziale Politik stehen. Dem ist nicht so. Sein Fremdeln mit den Linken und ihrer Politik legt er in Hillbilly-Elegie dar. Eine Quelle des Misstrauens gegen sozialstaatliche Maßnahmen ist die eigene Erfahrung: Eine Zeit lang arbeitete er in einem Supermarkt, in dem auch viele Empfänger*innen von Lebensmittelmarken einkauften. Er beobachtete wie viele den Staat betrugen, indem sie massenweise Cola kauften, die sie günstiger weiterverkauften und das so verdiente Geld dann für Alkohol und Zigaretten ausgaben. Der junge J.D. Vance schaute daraufhin auf seine Gehaltsabrechnung, auf dem der Abzug für die Einkommensteuer vermerkt war und warf den Empfänger*innen von Lebensmittelmarken vor, sein erarbeitetes Geld zu verschleudern. Genau diese Art von Missgunst und Neid innerhalb der Arbeiterschicht, bestimmt aktuell auch die Debatte in Deutschland um das Bürgergeld. CDU, FDP und AfD spielen die unteren Lohngruppen gegeneinander aus, was zu einer Stigmatisierung von Bürgergeldempfänger*innen führt. 

Anstatt sich wirklich für die Arbeiterklasse einzusetzen, sieht Vance die Schuld beim Individuum. Sozialstaatliches Eingreifen verschlimmert nach ihm die Probleme eher und an vielen Stellen von seinem Buch entsteht der Eindruck, die anderen sind zu faul oder nicht willens, ihre eigene Lage zu verbessern. Große Maßnahmen, die das Leben der einfachen Bevölkerung verbessern, sind dementsprechend bei einer möglichen Wahl Vance’ nicht zu erwarten. Obwohl er wie kein zweiter die Sorgen der Arbeiterschicht kennt, ja diese in seinem Buch aufgeschrieben hat, dafür vom liberalen Amerika gefeiert wurde, wendet er sich einem radikalen Konservatismus zu, der für eine Verschärfung der sozialen Gegensätze steht. 

Über Yale in die Oberschicht 

Nach dem Bachelor entschied Vance sich dazu, Jura zu studieren, denn der Anwaltsberuf erschien ihm vielversprechend. Um nach dem Studium einen sicheren Job zu haben, ist es sein Ziel an der Elite-Uni Yale zu studieren. Er wird angenommen und das Studium kostet ihn entgegen allen Erwartungen sehr wenig. Die meisten Studierenden in Yale haben wohlhabende Eltern und waren vorher auf einer kleinen privaten Universität. Vance dagegen kommt von einer staatlichen Hochschule und seine Eltern verdienen sehr wenig, was dazu führt, dass er von Yale besonders finanziell gefördert wird. 

Die Jura-Professorin Amy Chua, die vor allem bekannt ist durch ein Buch über eine autoritäre und leistungsorientierte Erziehung, ist beindruckt von seinem außergewöhnlichen Weg und rät ihm ein Buch über seine Lebensgeschichte und einfache Herkunft zu schreiben. Hillbilly-Elegie erscheint im Jahr 2016 und wird für das liberale Amerika zum Erklärbuch der Wahl Donald Trumps. Auch Olaf Scholz hat das Buch gelesen und war von Vance’ Geschichte zu Tränen gerührt. Vier Jahre später erschien eine Netflix-Verfilmung mit Amy Adams und Glenn Close in den Hauptrollen, mit der der Streaminganbieter sich große Hoffnungen auf die Oscars versprach. Der Film ist zwar nicht so schlecht, wie er allgemein bewertet wird, handwerklich ist er solide gemacht, aber er hinterlässt keinen nachhaltigen Eindruck. Endgültig in Verruf geraten ist das Buch Hillbilly-Elegie als Vance zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten von Donald Trump ausgewählt wurde. Der deutsche Verlag des Buches, Ullstein, nahm es aus seinem Programm. Von einem in der Öffentlichkeit gefeiertem Werk wurde es zu einem roten Tuch. 

Die Wandlung des J.D. Vance

In der Wirtschaft konnte Vance schnell Fuß fassen und arbeitete unter anderem für den rechtslibertären Techinvestor Peter Thiel. Doch es treibt ihn in die Politik und er strebt an, für seinen Heimatstaat Ohio in den Senat einzuziehen. Dafür braucht er die Unterstützung von Donald Trump. Noch vor der Wahl hatte er ihn in einem privaten Chat als »Amerikas Hitler« bezeichnet, wie später öffentlich wurde. Von einem Gegner Trumps wandelt Vance sich zu einem entschiedenen Unterstützer. Im Jahr 2021 fand angeblich ein entscheidendes Treffen in Trumps Residenz Mar-A-Lago statt, bei dem Peter Thiel vermittelte. Vance beugte vor Trump sein Knie und unterwarf sich dem ehemaligen Präsidenten. 

Aber warum schloss er sich Donald Trump an und warf seine früheren Überzeugungen über Bord? In einem Spiegel-Interview erzählt sein ehemaliger Mitbewohner aus Yale, der Demokrat Josh McLaurin, wie er Vance einschätzt. »J.D. hat entschieden, dass Trump die einzige Möglichkeit ist, seine Wut auszuleben. J.D. ist ein zutiefst wütender Mensch.« Diese Wut, so McLaurin sei eine Folge seiner traumatischen Kindheit. 

Sein unbändiger Ehrgeiz hat Vance bis nach Yale gebracht und wird ihn vielleicht bis ins Amt des Vizepräsidenten bringen. Sein Pendant auf demokratischer Seit ist der volkstümliche Gouverneur von Minnesota, Tim Walz. Im Gegensatz zum ihm wirkt Vance im direkten Gespräch mit Bürger*innen eher ungelenk. Ein Video von einem ungeschickten Auftritt in einem Donutladen verbreitete sich rasch in den sozialen Medien. Die fehlende Volksnähe könnte für Vance trotz seiner einfachen Herkunft zu einem Problem werden. 

Der nächste Anführer der MAGA-Bewegung?

Was würde ein möglicher Sieg der Republikaner bei der Wahl bedeuten? Mittlerweile vertritt Vance radikale konservative Positionen. Sein Wandel geschah laut McLaurin nicht aus opportunistischen Gründen: »Wenn er [Vance] etwas sagt, meint er es. […], wenn J.D. all diese verrückten Sachen sagt, die seinen früheren Überzeugungen widersprechen, liegt das daran, dass J.D. sich verändert hat. Er steht dahinter.« Ein aus gesinnungsethischen Motiven handelnder Vizepräsident droht dementsprechend. Mit radikalem Eifer wird er wohl seine konservative Agenda vorantreiben wollen. Die durch seine traumatische Kindheit entstandene Wut, könnte der Motor für einer umfassenden Umgestaltung der amerikanischen Politik werden. 

Auf die Frage, ob er das Ergebnis der Wahl von 2020 anerkennt, reagierte er im TV-Duell mit Tim Walz ausweichend. Bei anderer Gelegenheit spricht er von »ernsthaften Problemen«, die damals angeblich stattgefunden haben und leugnet die Wahlniederlage Trumps. Der ehemalige Vizepräsident Mike Pence ratifizierte noch das Wahlergebnis, trotz gegenteiliger Aufforderung von Trump. Er wurde durch Vance ersetzt und es ist wahrscheinlich, dass dieser im Falle einer Wahlniederlage loyal gegenüber seinem Chef bleiben würde. 

Sollte Trump am Dienstag wiedergewählt werden, könnte sein Erbe damit feststehen. Nach der amerikanischen Verfassung würde es Trumps letzte Amtszeit sein. Der Trumpismus und die MAGA-Bewegung werden mit dem politischen Ende Trumps, jedoch nicht aufhören zu existieren. Für manche ist Vance der natürliche Kronprinz. Er ist deutlich jünger als Trump und wird versuchen die Kraft der MAGA-Bewegung zu nutzen, um selbst die republikanische Partei anzuführen.

Tore studiert Politikwissenschaft und Philosophie an der CAU. Er ist seit dem April 2024 beim ALBRECHT.

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