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Ella Roads scharfe Dystopie Die Laborantin im Studio 

Modifizieren wir mal eine dystopische Welt. Hier kommt nur ein perfekter Mann mit langer Lebenserwartung als potentieller Partner infrage. Und selbstverständlich sind alle Details zu sportlicher Aktivität und physischer Gesundheit bereits in seinem Datingprofil abgebildet, das dann dennoch in Anbetracht besserer Kandidaten weggeswiped wird. In dieser Welt wird Schwangeren ab der ersten Entwicklungswoche ihres Kindes nahegelegt, den Embryo unentwegt Tests auszusetzen und bei Abweichungen von Normwerten genetische Anpassungen vorzunehmen. Bewerbungsverfahren in dieser imaginierten Dystopie sprengen jegliche Grenzen der Privatsphäre, brechen Persönlichkeitsrechte. Als Bewerber*in ist eine gesundheitliche Eignung Grundvoraussetzung, – wer mit einer psychischen Erkrankung daherkommt, bangt trotz überdurchschnittlicher Referenzen um die Anstellung in jeglichem Berufsfeld. Elemente, die vor sechs Jahren noch realitätsferner wirkten, erscheinen heute kaum noch als Dystopie. Seit der Uraufführung von Ella Roads Die Laborantin im Jahr 2018 hat sich die Idee des perfekten, gesunden Menschen durch Körperkulte weiter ausgeformt. Fortschritte im Feld der Genetik, die ethische Grenzwerte stetig austesten und neu definieren, prägen heute Bereiche von Lebensmittelversorgung bis zur pränatalen Diagnostik. Zunehmend erscheint ein kürzlich noch futuristisches Werk nahezu salonfähig. 

Futuristische Gegenwartsdystopie 

Nicht nur wegen der unmittelbaren Nahbarkeit der Schauspieler*innen im Studio des Schauspielhauses ist das Publikum daher augenblicklich in den Bann des Narrativs gezogen. Treibt das Theaterstück zwar unausgesprochenen genetischen Determinismus auf die Spitze, indem der Alpha-Mann durch ein öffentliches Wertesystem klassifiziert wird, sind Ansätze dieser Gesellschaftsordnung bereits in unserer Lebensrealität verankert: Beim Dating dem Schönheits- und Gesundheitsideal zu entsprechen scheint in Zeiten schnelllebiger Wisch-Weg-Liebeshoffnung zwingend erforderlich zu sein. Auch invasive Gesundheitschecks, wie sie in Die Laborantin gefordert werden, gehören zunehmend zur realistischen Tagesordnung von gegenwärtigen Bewerbungsverfahren. Das Programmheft unterfüttert diesen aufkeimenden Gedanken mit dem Fallbeispiel einer werdenden Lehrerin in Deutschland, der die Verbeamtung vom Amtsarzt wegen einer möglichen Erbkrankheit verweigert wird. Der Schock vollzieht sich nicht plötzlich, sondern schleichend am Abend der Premiere, weil zunehmend klar wird, dass die Gegenwart bereits an der Fensterscheibe der gezeigten Dystopie schabt. 

Doch an diesem Abend fehlt die mäßig schützende Scheibe der Distanz: Das klinische Bühnenbild von Marvin Ott wird bereits in den ersten Momenten durch rote Blutproben chaotisiert, die Bea (Claudia Friebel) hektisch zusammenklaubt, damit das anfängliche Gefühl von einengendem Krankenhauscharisma alsbald zurückkehrt. Friebels Performanz reißt das Publikum sofort hinein in Beas Strudel aus rebellischem Wankelmut, unbändiger Emotion und knallharter Konformität. Ihrer Figur ist eine Moral inhärent, die den Zuschauenden bis zur letzten Einstellung nicht zugänglich wird. Auf welcher Seite steht diese Figur, die dafür zuständig ist, das Blut der gesamten Gesellschaft auf Mängel zu prüfen? Diese Bea, die euphorisch gespannt vor den Monitoren steht, die dafür entwickelt sind, die Lebenschance eines Menschen auf einer Skala von null bis zehn aufzuführen? Sie ist unleugbar Teil des systemischen Wandels hin zu einer detailliert kalkulierbaren Lebenswelt. Wer sich nicht dem Rating des Blutes im Labor unterzieht, gehört bald zu einer marginalisierten Gruppe. Das Testergebnis markiert in der Welt der Laborantin die Qualität eines jeden Menschen und nahezu in jeder Lebenslage sind die Getesteten gezwungen, ihr Ranking vorzuzeigen.  

Reduziert auf einen (Markt)Wert 

Zum Glück findet Bea ganz zufällig einen beeindruckenden Mann, der sie mit seiner Art und seiner astronomischen Wertung von 8,9 völlig in den Bann zieht. Alles an Aaron (Rudi Hindenburg) ist perfekt und das hohe Ranking von beiden – Bea ist eine 7,1 – verspricht ein überdurchschnittlich gutes und langes Leben. Die beiden sind als gläserne Menschen eindeutige Profiteure des Systems. Sobald ihre Freundin Char (Rebekka Wurst) mit ihrem schlechten Ranking von 2,2 in eine zwangsläufige Opferrolle gedrängt ist, verschiebt sich die ohnehin berstend gespannte Dynamik im Saal. Chars verzweifelte Trotzigkeit weicht einer radikal aktivistischen Emotionalität. Rebekka Wursts energetische Bühnenpräsenz komplementiert ihre unkonventionell agierende Figur. Die ungefilterte Intensität ihrer Char evoziert unausweichlich Vergleiche mit weltgeschmerzten Klimaprotestierenden, die mit hallendem Nachdruck Änderung fordern.  

Systemtreue Überzeugungen werden von den vier Figuren im Kammerspiel einerseits kategorisch verweigert andererseits blind verfolgt. In die vertraute Freundschaft zwischen Char und dem non-plus-ultra Pärchen schiebt sich ein Konflikt, der Antworten fordert. Wann und wie beginnen Profiteure eines krankenden Systems zu rebellieren? Welchen Weckruf brauchen Beobachtende, um einen moralischen Erdrutsch zu identifizieren? Und immer wieder die drängende Frage: Wie nah an der Realität ist die Dystopie bereits? 

Klinische Emotionalität ganz nah 

Claudia Friebel personifiziert das Phänomen des Overthinkings in ihrer Bea für die Bühne. Ihre kreisenden Gedankenprozesse sind unerhört nachvollziehbar. Selbst wenn Bea moralisch verwerfliche Entscheidungen trifft, hat Friebel die Empathie des Publikums durch ihr markant ehrliches Schauspiel gänzlich auf ihrer Seite. In ihrer Welt der maximiert funktionalisierten Lebensmittel musste sie für einen Orangenbaum ein Monatsgehalt springen lassen. Mit liebevoller Akribie sorgt sie sich um diesen zentralen Punkt der Bühne – etwas eigentümlich Natürliches, so fernab von jeglicher Laborkälte. Zum Ende des Abends verzeihe ich diesen Charakteren nahezu alles – sind sie doch in einer schrecklich durchgetakteten Welt gefangen, aus der ein Ausbrechen sinnlos bis unmöglich erscheint. Dass Rudi Hindenburgs Aaron schließlich die Sinnsuche aufzugeben scheint und sich bemitleidenswert eskapadisch dem Alkoholkonsum hingibt, fügt sich in die Sympathiehascherei der drei Hauptfiguren an diesem Abend.  

Einzig David (Philipp von Schön-Angerer) findet vorerst keinen emotionalen Draht zum Publikum. Die Figur polarisiert, wirkt anfänglich wie ein Schattenwesen und wenig vertrauenserweckend. Das Spiel des Misstrauens ist von Philipp von Schön-Angerer fast perfektionistisch ausgereizt. Die Figur des Mister X zu verkörpern, in einer Welt, wo alle die Karten auf den Tisch legen müssen, ist ein Kraftakt, der überraschend gelingt. Alle Akteur*innen in Die Laborantin finden eine einzigartige Sprache dafür, die gänsehautartige dystopische Welt in den Zuschauerraum zu transportieren. 

Der Sog, der von der ersten Sekunde an in diese dystopische Welt zieht, wird aber auch phänomenal durch das Toneinrichtungsteam hinter Sönke Timm verstärkt. Regelmäßig brechen diverse aufrüttelnde Tonaufnahmen in die vermeintlich futuristische Blase des Studios. Zitate, die an die Realität von bereits angewandten Gentechniken erinnern. Worte, die ein Datingprofil in der futuristischen Welt beschreiben. Geräusche, die uns den nicht abgebildeten Raum der gezeigten Welt nahebringen. Unter Marie Schwesingers Regie ist ein Schauspiel entstanden, was noch Wochen später als Echo im Kopf nachhallt. Ein Stück, was überragend den Zeitgeist trifft und beizeiten sprachlos macht mit seiner unnachgiebigen Frage nach einer lebenswerten Zukunft. 

Leider ist das Studio im Schauspielhaus nicht für Massen ausgelegt. Das kommt dem kammerhaften Schauspiel zugute, macht Künstler*innen und Werk nahbarer. Leider sind dadurch aber auch weniger Karten erhältlich, die stets schnell ausverkauft sind. Wer hier auf den Zugang über das Kulturticket spekuliert, wird vermutlich enttäuscht. Weitere Termine für Die Laborantin sind in der Vorbereitung; das Werk wird im nächsten Jahr definitiv fortgesetzt.

Lena studiert Medienwissenschaft und Anglistik. Seit November 2020 ist sie Teil der Albrecht-Redaktion, wo sie über Theater, Kino, Oper, Literatur schreibt. Von Anfang 2024 bis Anfang 2025 hat sie ein Jahr lang das Kulturressort geleitet. Selten verirrt sie sich auch in Themen der Hochschule und Gesellschaft.

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