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Die vielen Stimmen meines Bruders am Theater Kiel

Eigentlich hat seine Schwester wenig Ahnung vom Leben ihres Bruders. Doch das ist nicht schlimm, sagt er: »Können wir uns nicht immer nur den eigenen Körper vorstellen?« Und dennoch versucht sie, sich in seine Lebenswelt hineinzuversetzen. Lotto, so heißt der Bruder in dieser auto-fiktional anmutenden Geschichte von Magdalena Schrefel, ist an einem Gendefekt erkrankt und kann seit seiner Geburt nicht laufen. Mit dem Rollstuhl kommt er nach fast 25 Jahren mittlerweile gut klar, eine neue Diagnose beschäftigt ihn jedoch sehr: Er wird seine Stimme verlieren.

Gemeinsam mit seiner Schwester geht er deshalb auf die Suche nach einer neuen Stimme; darauf einen »Doppelfingerschwur mit Spucke«. Aber warum eigentlich nur nach einer? Wenn man es sich schon aussuchen kann, dann sollten es doch viele Stimmen im Sprachcomputer sein, die anlass- und intentionsbezogen verwendet werden können. Davon ist Lotto überzeugt.

Schreiben ist öffentliches Sprechen

Magdalena Schrefels Stück, bei dem die Schwester als Alter Ego der Autorin fungiert, die über den Schreibprozess während der Aufführung laut nachdenkt und ihn noch erst während der Aufführung zu beenden scheint, sprudelt nur so vor Bruder-Schwester-Marmeladenglasmomenten. Es zeugt aber auch von tiefsitzender und oft überspielter Unsicherheit im Umgang miteinander – mit Lottos Krankheit. Da die Thematik für die beiden Geschwister so aufwühlend ist, lassen sie sich für die Aufführung des Stückes von zwei Schauspieler*innen vertreten, so erzählt es die Schwester in einem kurzen Service-Monolog.

Elli Frank aus dem Jungen Theater im Werftpark und Tomte Heer aus dem Ensemble des Schauspielhauses spielen die zwei Hauptfiguren unter der Regie von Güde Nissen so überzeugend und gleichzeitig verspielt, dass es eine wahre Freude ist, den beiden auf der außergewöhnlichen Bühne mit dem Publikum auf zwei Seiten und dem Geschehen in der Mitte zuzusehen. Ausstatterin Kira Carstensen verpasst dem Stück ein sockengeeignetes Bühnenbild.

»Mit meinen vielen Stimmen kann ich alles werden, was ich will!«

›Mein Bruder‹

Die Stimmen, die die beiden Geschwister casten, werden allesamt ebenfalls von Tomte Heer verkörpert. Sie reichen von einer jammernden Montagsstimme über eine sichere Ärzt*innenstimme, die »außen so klingt, wie ich innen«, bis hin zu einer Streitstimme, um seiner Schwester die Meinung zu geigen. All diese Situationen müsse man schließlich abdecken können, so der Bruder. Lotto möchte die Welt verändern und mit einer starken Stimme gegen Ungerechtigkeiten sprechen können: »Was mich behindert sind die Bilder, die es von Behinderung gibt.«

Wirklich inklusiv?

Hinter der Bühne war Hausdramaturg Tristan Benzmüller diesmal nicht allein. Lilli Zeifert, selbst Rollstuhlfahrerin, unterstützte ihn dabei, dieses Werk mit verschiedenen Blickwinkeln zu dem Diamanten zu schleifen, der es ist. Doch wie soll man damit umgehen, dass auch in dieser Produktion wieder ein ›able-bodied‹, also ein nicht-behinderter, Schauspieler eine Figur mit Behinderung verkörpert? Magdalena Schrefels Bruder Valentin Schuster ist die Grundlage für die fiktionale Entwicklung der Rolle des Bruders im Werk und war selbst am Entstehungsprozess beteiligt.

Zusammen greifen die Geschwister nach den Sternen © Olaf Struck

Er verrät im Interview mit Lilli Zeifert, dass Diversität in Ensembles zwar wichtig sei und gefördert werden sollte, aber jede*r, der*die sich »dafür entscheidet eine Geschichte zu inszenieren oder zu spielen, auch richtig dafür ist«. Hier überzeugt Tomte Heer auf ganzer Linie durch ein sanftes, verständnisvolles Spiel, das nichts in die Lächerlichkeit zieht oder bloßstellt. Elli Frank als bedacht-distanzierter und erzählerischer Gegenpart der Schwester ordnet das Geschehen immer wieder ein und ertappt das Publikum auch das eine oder andere Mal dabei, dass eine Träne über die Wange kullert.

Fünf Aufzüge Applaus

Mit Die vielen Stimmen meines Bruders zeigt das Theater Kiel erneut, wie gut spartenübergreifende Zusammenarbeit aussehen kann. Ein Werk, dass die vierte Wand durchbricht und – mag es auch noch so floskelhaft klingen – zum Nachdenken anregt. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien und der Freiheit eines nicht-behinderten Körpers und Geistes hallt noch lange nach.

Karten sind für den 18., 24. und 26. Juni sowie für den 11. Juli erhältlich. Beginn je um 20:30 Uhr im Studio des Schauspielhauses.

Chefredakteur

Finn ist seit Februar 2024 Chefredakteur des ALBRECHTs. Zuvor hat er ein Jahr lang das Kulturressort geleitet. Für unser Blatt sitzt er häufig in der Oper, im Theater oder im Konzertsaal. Er studiert Englisch und Geographie auf Lehramt und ist seit dem WiSe 22/23 Teil der Redaktion.

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