Filmkritik zum queeren Melodram All of Us Strangers

Wie einsam kann man sich in einer pulsierenden Millionenmetropole wie London fühlen? Geht es nach All of Us Strangers: ziemlich einsam. Der Film des britischen Regisseurs Andrew Haigh (Weekend, Lean on Pete) handelt von einer erotisch-tragischen Liebesbeziehung, die Licht in eine dunkle und einsame Welt bringt. 

Der Drehbuchautor Adam (Andrew Scott) ist Mitte 40 und lebt allein in seiner Wohnung in einem modernen Londoner Hochhaus. Seine Freund*innen sind längst in die Vorstädte von London gezogen, um sich ein Haus leisten zu können und eine Familie zu gründen. Eines Nachts besucht ihn sein deutlich jüngerer Nachbar Harry (Paul Mescal). Beide merken schnell, dass sie scheinbar die einzigen Bewohner des Hochhauses sind, und so entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. 

Doch Adam wird von seiner Vergangenheit eingeholt. Als er zwölf Jahre alt war, starben seine Eltern bei einem Autounfall. Um seine Kindheit zu verarbeiten, reist Adam zu seinem Elternhaus. In traumhaften Sequenzen begegnet er seinen Eltern (Claire Foy und Jamie Bell), mit denen er über sein Erwachsenenleben als Drehbuchautor redet. Mit diesem Beruf können beide nicht sehr viel anfangen. Mit seinem Schwulsein noch viel weniger. Seine Mutter konfrontiert ihn mit diversen Vorurteilen, wie der Angst vor AIDS und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Die Vorurteile versucht Adam auszuräumen, indem er erklärt, dass die Gesellschaft heutzutage im Gegensatz zu den 1980er Jahren mit queeren Menschen ganz anders umgeht. 

Zusammen durch die Einsamkeit 

Auch Harrys Familie hat Probleme mit seiner sexuellen Orientierung. So teilen beide ein Schicksal, das sie allzu oft einsam zurückgelassen hat. Zusammen geben sie sich Kraft, verarbeiten ihre Vergangenheit und diskutieren ihre queere Identität. Trotz ihres Altersunterschieds begegnen sie sich auf Augenhöhe. Die Hauptdarsteller Scott und Mescal spielen diese Beziehung grandios. Sie bringen die Probleme und Schmerzen ihrer Figuren glaubhaft und mit einer großen Tiefe auf die Leinwand. An manchen Stellen hätte man sich jedoch einen noch größeren Fokus auf ihre Beziehung gewünscht. 

Die oft traumhaften Sequenzen lassen die Unterschiede zwischen Realität und Imagination verschwinden. Es gibt eigentlich nur vier Charaktere, die im Film von Bedeutung sind. Der Rest der Stadt erscheint fremd und kalt. Diese Inszenierung unterstützt die Darstellung von Adams Schicksal, dessen Leiden durch die von Regisseur Andrew Haigh geschaffene Welt noch verstärkt wird. 

So wird All of Us Strangers zu einem großen Film über Einsamkeit in der modernen Welt, die Kämpfe mit der eigenen familiären Vergangenheit und die Kraft der Liebe. Doch ihren Dämonen müssen sich die beiden Hauptfiguren letztendlich allein stellen. Die Tatsache wird einem in All of Us Strangers auf dramatische Art und Weise verdeutlicht. 

8 von 10 Kinokatzenpunkte 

Autor*in

Tore studiert Politikwissenschaft und Philosophie an der CAU. Er ist seit dem April 2024 beim ALBRECHT.

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