Tödliche Geschlechterdifferenzen in der Gesundheitsversorgung
Männer erkranken häufiger und schwerer an Corona als Frauen. Das ist eine Erkenntnis, die auf geschlechtersensible medizinische Forschung zurückzuführen ist. Seit einigen Jahren werden Krankheiten dahingehend geprüft, wie sie sich bei unterschiedlichen Geschlechtern bemerkbar machen. Selbst die Bundesregierung hat es sich im Koalitionsvertrag zum Ziel erklärt, die geschlechtersensible Gesundheitsversorgung aufzubessern. Aber warum erst jetzt?
Sei nicht so hysterisch!
Schmerzen im Unterleib, Kurzatmigkeit und Übelkeit – bei diesen Symptomen müssten bei fast allen die Alarmglocken schrillen. Doch leider werden die Wenigsten wissen, womit wir es hier zu tun haben. Klagt jedoch einer über einen plötzlichen Brustschmerz, der in den Arm zieht, über Atemnot oder ein Engegefühl in der Brust, ist das Bild klarer: Hier könnte demnächst ein Herzinfarkt drohen. Schnellstens wird der Rettungsdienst herangezogen. Dabei können die ersten drei Symptome genauso tödlich im Herzversagen enden. Nur eben bei einer Frau.
Diese fehlende Beachtung weiblicher Gesundheitsfragen kommt nicht von ungefähr. Die Medizin schaut auf eine lange Tradition, wenn es um die Fehlbehandlung von Cis-Frauen geht. Erst in den 1980er Jahren setzten sich Ärzt*innen kritisch mit dem Begriff der ‚Hysterie‘ auseinander und strichen ihn letztlich aus der medizinischen Terminologie. Das Wort leitet sich von dem altgriechischen Wort ‚Hystera’ für Gebärmutter ab – und da ist auch schon des Pudels Kern. Psychische und neuropsychologische Erkrankungen wurden mit dem Begriff der Hysterie abgetan. Als Krankheiten also, die im weitesten Sinne auf eine vermeintliche Dysfunktion weiblicher Geschlechtsorgane zurückgeführt wurden.
Ist doch Pillepalle!
Doch nicht nur diese dunkle Vergangenheit der weiblichen Gesundheitsversorgung spielt bei der mangelhaften Geschlechtersensibilität eine Rolle: Lange Zeit waren Studien, aus denen griffige Symptomdiagnosen abgeleitet werden, beinahe ausschließlich am weißen Cis-Mann orientiert. So galt die gefährliche Auffassung, es würde neutrale und inklusive Medizin betrieben, selbst wenn sich Studien nur auf diese Männer bezogen. Mit den 1990er Jahren brach diese Vorstellung sukzessiv auf. Medizinische Foren verweisen seitdem vermehrt darauf, sich mit genderspezifischer Forschung vertraut zu machen. Bis jedoch Schwarze Frauen in solchen Foren Erwähnung fanden, musste noch mehr Zeit verstreichen. Noch heute ist die Studienlage nicht ausgeglichen: Im Fachbereich Kardiologie ist die Genderdifferenz der Studienlage stark sichtbar. Der Frauenanteil bei herzbezogenen Studien macht hier nur 24 Prozent aus.
Übrigens äußern sich die Probleme der Gesundheitsversorgung bei Frauen nicht nur im Kontext der kardiovaskulären Erkrankungen. Beispielhaft weicht die Symptomlage auch bei Depressionen, Multipler Sklerose und Hautkrankheiten von der männlich-weiß orientierten Medizin ab. Und auch wenn die Diagnose korrekt gestellt wurde, ist noch längst nicht allen Mediziner*innen bewusst, dass andere Behandlungsmethoden an den Tag gelegt werden müssen. So wirkt beispielsweise Aspirin für Männer vorbeugend bei einem Herzinfarkt, bei Frauen gibt es keine Auswirkungen. Andere Pillen, wie die bekannten Beta-Blocker, fordern für Frauen eine geringere Dosierung, weil es sonst zu schweren Nebenwirkungen und Ausfallerscheinungen kommen kann.
Trans* Broken Arm Syndrome
Was schon für Frauen gefährlich bis tödlich enden kann, ist für trans*-Personen noch eine Spur heftiger. Hier wird ein Schmerz im Unterleib vermehrt nicht nur fehldiagnostiziert. Oft werden trans*-Personen ihre Schmerzen gar abgesprochen oder gesundheitliche Probleme auf etwaige Hormontherapien geschoben. Die WHO verweist darauf, dass diesem Personenkreis in großem Maße Stigmata und Diskriminierungen im Behandlungszimmer begegnen. Das beginnt bereits bei der falschen Pronomen-Nutzung durch medizinisches Fachpersonal, die nicht nur respektlos ist, sondern auch zu psychischer Belastung beiträgt.
Unter dem Schirmbegriff ‘Trans* Broken Arm Syndrome’ finden sich darüber hinaus all jene Fälle, die eine Gesundheitsversorgung einfordern – für einen gebrochenen Arm zum Beispiel – aber mit dem Verweis auf die Nebenwirkungen einer Hormontherapie wieder nach Hause geschickt werden. Eine Studie von Catherine Wall, Alison Patev und Eric Benotsch ergab, dass fast ein Drittel aller trans*-Personen solch diskriminierende Erfahrungen im Behandlungszimmer über sich ergehen lassen mussten. Für die Studie aus dem Jahr 2023 wurden 147 transgender* und gender-diverse Personen befragt. Die Autor*innen fassen diesen Missstand unter dem Kürzel GRMMIQ (Gender-related medical misattribution and invasive questioning) zusammen.
Die Zeitung The Guardian berichtete im März von einem transgender Mann, bei dem ein Nierenversagen diagnostiziert wurde. Sein Hausarzt empfahl als Folge dieser Diagnose ein Absetzen der Hormone. Eine Entscheidung, die Cameron Whitley nicht nur psychisch und physisch mehrbelastete, sondern auch völlig willkürlich war, wie sich später herausstellte. Es handelt sich bei ihm nicht um einen Einzelfall. Trotz des Vorhabens der Bundesregierung gestaltet sich auch in Deutschland die informierte Gesundheitsversorgung von trans*-Personen noch schwierig. „Wenn eine Person in der Arztpraxis divers ankreuzt, werden als Grundlage im Labor immer die weiblichen Normwerte genommen, weil keine diversen Werte vorliegen”, bemängelt Urologe Dr. Axel-Jürg Potempa gegenüber der AOK. Grund sei, dass schlicht keine Daten an diversen Personen erhoben werden oder in so geringem Maße, dass die Zahlen nicht repräsentativ seien.
Fuck the Patriarchy!
Immer wieder zeigt sich: Intersektional feministische Ansätze sind in jedem Feld vonnöten. In der Medizin können sie in Zukunft sogar Leben retten. Es wird Zeit, dass die Wissenschaft sich dorthin orientiert. Und das fängt bereits bei den Medizinstudierenden an. In Kiel macht sich eine AG der medizinischen Fachschaft für weniger Sexismus in der Medizin stark. Die Fem*Med Kiel betrachtet die aktuelle Lage in der Lehre als Teil struktureller Diskriminierung. Auf diversen Veranstaltungen werben sie daher für einen neuen Kurs in der medizinischen Lehre.
Darüber hinaus haben die drei Regierungsparteien die mangelnde Geschlechtssensibilität im Gesundheitswesen erkannt und ein Vorhaben im aktuellen Koalitionsvertrag verankert. Auf Seite 86 heißt es: „Wir berücksichtigen geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung und bauen Diskriminierungen und Zugangsbarrieren ab. Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden.“ Ein wahrlich nobler Ansatz – nur bleibt abzuwarten, wie diese Idee praktisch umgesetzt wird. Bis dahin bleibt wohl nur, im nächsten Erste-Hilfe-Kurs einen freundlichen Hinweis zu weiblichen Symptomen beim Herzinfarkt zu droppen.
Lena studiert Medienwissenschaft und Anglistik und leitet seit Januar 2024 das Kultur-Ressort. Seit November 2020 ist sie Teil der Albrecht-Redaktion, wo sie über Theater, Kino, Oper, Literatur schreibt. Selten verirrt sie sich auch in Themen der Hochschule und Gesellschaft.