Was gerade vom Aussterben bedroht ist, kommt auch immer auf die Perspektive an. Die alte Laier, dass bei der Jugend die Manieren ausgestorben sind, kennen wir alle aus der Vergangenheit. Und mittlerweile sterben schon Dinge in der heutigen Jugend aus, die für uns zum Großwerden dazugehörten: Ohne Handy auf den Bolzplatz und bis es dunkel wird nicht nach Hause kommen oder sich die neusten Hits auf dem Schulweg per Bluetooth ziehen. Für eine andere Perspektive haben wir Prof. Dr. Dr. Hendrik Klinge gefragt: »Was ist aus Ihrer Sicht vom Aussterben bedroht?«
Das Buch – eine gefährdete Spezies
Vieles ist gegenwärtig vom Aussterben, vom Verschwinden bedroht, aber bei wenigen Dingen ist das so augenfällig wie beim Buch. Diese Formulierung ist zumindest zweideutig. Einmal kann damit etwas sehr Schlichtes gemeint sein: Das Aussterben des Buchs als physisches Objekt.
Die meisten von uns, die an der Universität tätig sind, verbringen ihre Tage vor Bildschirmen. Die neuesten Journal-Beiträge, Gutachten und Anträge – all das wird oft nur noch digital rezipiert. In meinen Veranstaltungen sehe ich fast nie Studierende, welche die (hoffentlich) präparierten Texte auf Papier vor sich liegen haben. Der E-Reader verdrängt das Suhrkamp-Taschenbuch. Hier gilt es Abschied nehmen; und vielleicht ist es ein Abschied, der nicht einmal mit Trauer begangen werden muss.
Die Rede vom Aussterben des Buchs hat aber noch eine andere Dimension. Ist absolut von einem »Buch« die Rede, meint man in der Regel nicht einen Sammelband oder eine Kongressschrift, obwohl dies fraglos auch Bücher sind; vielmehr werden als »Buch«, zumindest in der Wissenschaft, zuvorderst Monografien bezeichnet. Seit diejenigen Disziplinen, welche früher einmal Geisteswissenschaften hießen, von den Naturwissenschaften den Ansatz der trans- und interdisziplinären Projektforschung übernommen haben, muss die Monografie als gefährdete Spezies gelten.
Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als Resultat eines DFG-Netzwerks? Undenkbar. Das mag man nun als das Gejammer eines Buchgelehrten abtun, der keine Lust auf Anträge hat, sondern lieber in seiner Kammer darüber nachdenken will, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und das ist es sicher auch. Daher: Trans- und interdisziplinäre Netzwerke sind eine wunderbare Sache und tragen, auch in den Geisteswissenschaften, reiche Früchte. Nur geht dabei auch etwas verloren: Die bedeutende Monografie, das »große Buch«, geschrieben in der Einsamkeit der Gelehrtenstube. Man mag das Aussterben der Monografie beklagen oder die neuen Wege der Wissenschaft bejubeln, eines ist klar: This is the end of the book as we know it.
Hendrik Klinge, Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Dogmatik und religiöser Pluralismus, Theologische Fakultät der CAU.
Joschka studiert seit dem Wintersemester 20/21 Soziologie und Politikwissenschaft und ist seit Ende 2022 Teil des Albrechtsteams. Dazu leitet er seit dem März 2023 das Layoutteam und ist seit Februar 2024 stellvertretende Chefredaktion.