Die unsichtbaren Altlasten der Ostsee

Ganz Kiel fiebert dem Sommer entgegen: Vor der Arbeit oder Uni einmal in die Förde springen, laue Sommerabende am Strand verbringen – genau dafür übersteht man den grauen Winter.
Doch es gibt ein Problem: Das Meer liegt zwar direkt vor der Haustür, aber leider ist das Baden in der Ostsee nicht so unbedenklich, wie viele denken. Neben bunten Seesternen und anderen Meeresbewohnern findet man in der Ostsee jede Menge Altlasten: Munition aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Über ihre Entsorgung wurde sich nach dem Zweiten Weltkrieg kaum Gedanken gemacht und so wurden sie kurzerhand ins Meer gekippt – der kleinste Teil sind Blindgänger, zum Beispiel Seeminen und Fliegerbomben. In den sogenannten Munitionsversenkungsgebieten liegen rund 300 000 Tonnen Munition in der Ostsee und 1,3 Millionen Tonnen in der Nordsee. Die Kolberger Heide in der Ostsee direkt vor dem Eingang zur Kieler Förde ist eines der gefährdeten Gebiete.
Die Experten Dr. Aaron Beck, leitender Wissenschaftler in der Arbeitsgruppe Biogeochemie der Wassersäule am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, der momentan an Bord der Alkor, einem Forschungsschiff, unterwegs ist und Prof. Dr. Maser, Institutsdirektor für Toxikologie und Pharmakologie an der CAU zu Kiel, erklären die Auswirkungen der toxischen Stoffe auf den Menschen und die Unterwasserwelt.
Gefahr für Mensch und Muschel

Die Ostsee ist ein beliebtes Ziel für Tourist*innen, Wassersportler*innen und Einheimische – aber wie viele sind sich der Risiken bewusst, die diese Altlasten mit sich bringen? Denn die Munition liegt nicht in Ufernähe am Meeresboden und die freigesetzten Schadstoffe sind nicht mit bloßem Auge sichtbar. Trotzdem sollten die Gefahren nicht unterschätzt werden. Die Altlasten beinhalten unter anderem TNT, das als krebserregend und erbgutschädigend eingestuft wird (wer »Oppenheimer« gesehen hat, kann hier mit Wissen glänzen), sowie Quecksilber und Blei. Außerdem wurden weitere Sprengstoffarten gefunden, deren toxische Wirkung bisher wenig erforscht ist, fügt Dr. Beck hinzu. Mit der Zeit lösen sich die Stoffe auf und können sich ausbreiten. Der Temperaturanstieg durch den Klimawandel beschleunigt den Zerfall der Munition zusätzlich.
Besonders problematisch dabei ist, dass nahezu abgetrennt vom Atlantik und der Nordsee sich das Wasser nur sehr langsam erneuert. Dadurch ist die Sprengstoffkonzentration in der Ostsee mehr als hundertfach höher als in der Nordsee.
Für Badegäste stuft das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) die akute Gefahr derzeit als »gering« ein, da die Konzentration der gelösten Explosivstoffe sehr gering ist. Jedoch sollten sich Wassersportler*innen über die Munitionsversenkungsgebiete informieren und diese meiden. Die »Marine Munition Data Compilation–Germany« ist eine Datensammlung von der Deutschen Allianz Meeresforschung, die für jede*n zugänglich ist und über Gefahrenstellen informiert.
Auch der Ausbau von Offshore-Windkraftanlagen wird durch die Altmunition erschwert oder sogar ganz verhindert, da spontane Explosionen nicht ausgeschlossen werden können. Doch die größte Bedrohung besteht für das Ökosystem der Ostsee, das geschützt werden muss, um das Meer weiterhin als wertvollen Naturraum zu erhalten. Die schädlichen Stoffe wurden bereits in Muscheln und Fischen nachgewiesen und führten bei diesen unter anderem zu Leberanomalien.
Allerdings muss man aufs Fischbrötchen noch nicht verzichten, erklärt Prof. Dr. Maser, da die gefundenen Mengen noch nicht besorgniserregend sind. Das könnte sich jedoch in den nächsten 30 bis 50 Jahren durch die fortschreitende Korrosion ändern.
Wie holt man eine Bombe aus der Ostsee?

Immer wieder war beispielsweise der Bellevue-Steg in Kiel gesperrt, weil dort Taucher*innen nach Munition suchten. Wenn diese so gefährlich ist, warum wird sie dann nicht einfach entfernt? Leider ist das nicht so einfach. Jede Munition ist unterschiedlich, und bei den meisten Funden weiß man nicht, wie explosiv und gefährlich sie sind, erläutert Dr. Beck. In der Vergangenheit wurde oft versucht, die Munition gezielt zu sprengen, um die Gefahr zu verringern und die Bergung zu erleichtern. Glücklicherweise geschieht das immer seltener, da diese Methode das Ökosystem erheblich belastet und vielen Meereslebewesen schadet, wie das GEOMAR* berichtet.
Das ist jedoch nicht der einzige Grund, warum die Altlasten immer noch in der Ostsee liegen und seit über 80 Jahren giftige Stoffe ins Meer abgeben. Die Bergung benötigt aufgrund ihrer Gefahr eine Technologie, die es noch gar nicht gibt. Bisher schreckten die Entwicklungskosten ab.
Mit dem »Sofortprogramm für Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee« hat sich das BMUV jedoch dazu bereiterklärt, eine hohe Summe in die Hand zu nehmen und mit dem GEOMAR zusammen die Räumung anzugehen. 2024 wurde der Startschuss gesetzt. Eine KI gestützte Software soll die Munition lokalisieren und die Gefahr, die davon ausgeht, bewerten. Weitere Technologien für die Bergung, wie ferngesteuerte robotische Systeme, werden momentan getestet, mit deren Hilfe die Bergung funktionieren kann.
Prof. Dr. Maser ist schon gespannt auf diesen Sommer, da im Juni Wissenschaftler*innen, Politiker*innen sowie Vertreter*innen aus der Industrie auf der Kieler »Munition Clearance Week« zusammen kommen, um sich nun mit diesem Problem auseinander zu setzen. Sie wollen etwas schaffen, was bisher noch kein Land geschafft hat: sich von den Altlasten der Kriege entledigen, den Meeresraum schützen und der Natur die Chance geben, sich wieder zu regenerieren! Dr. Aaron Beck unterstreicht die Bedeutung der Pionierarbeit, die hier geleistet wird, um das globale Problem der versenkten Altlasten zu lösen.
*Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Fassung und im Print stand, dass das Geomar die negativen Auswirkungen von Unterwassersprengungen gemacht hat. Richtig ist, dass das Institut für Toxikologie an der CAU zusammen mit der dänischen Marine diese Entdeckung gemacht hat.

Isabella studiert seit dem Wintersemester 23/24 Sportwissenschaft im Master. Seit dem Sommersemester 2024 ist sie beim ALBRECHT.