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Alte Filme drohen in Vergessenheit zu geraten

Der ehemalige Polizist John »Scottie« Ferguson verfolgt seine Geliebte Madeleine Elster, die ganz aufgelöst auf einen Glockenturm rennt. Vorhin hatten sie sich noch ihre Liebe gestanden, doch jetzt scheint etwas Verstörendes passiert zu sein. Scottie, gespielt von der Hollywoodlegende James Stewart, hat eine stark ausgeprägte Höhenangst und im Treppenhaus kann er Madeleine nicht mehr folgen. Durch einen Kameratrick entsteht dabei ein unbeschreibliches Schwindelgefühl. So kann er nur noch zusehen, wie sie in den Tod fällt.

Die berüchtigte Kameraeinstellung wird fortan bekannt sein unter dem Namen ›dolly zoom‹ oder ›Vertigo shot‹, benannt nach dem gleichnamigen Film vom ›Master of Suspense‹ Alfred Hitchcock. In Fahrenheit 451 griff François Truffaut auf den ›Vertigo shot‹ zurück, Steven Spielberg tat es ihm gleich in Der weiße Hai. Heute ist er in der gefeierten Apple-Serie Severancenicht nur ein visuelles Stilmittel, sondern ein integraler Teil des Storytellings. Das Werk Hitchcocks prägte unzählige nachfolgende Regisseur*innen. Sucht man heute auf Streamingplattformen wie Netflix, Amazon Prime oder Disney Plus nach seinen Filmen, wird man aber nur noch vereinzelt fündig. Besser wird es auch nicht, wenn es um ähnliche Titel aus der klassischen Ära Hollywoods geht. Fehlanzeige! Nicht vorhanden. Etwaige Suchen liefern keine befriedigenden Ergebnisse.

Es waren einmal Klassiker im Fernsehen

Die Angehörigen der Gen Y oder Z haben häufig gar keinen Fernseher mehr. Wenn doch, dann ohne TV-Anschluss, da sie nur Streaminganbieter und Mediatheken nutzen. Verpassen sie also im linearen Fernsehen reihenweise Filmklassiker? Dem ist nicht so. Selbst die öffentlich-rechtlichen Sender zeigen nur noch vereinzelt Klassiker: Zur Jahrtausendwende waren es im Ersten nach einer Auswertung von TV Spielfilm noch über 100 im Jahr, ab den 2010er Jahren sank diese Zahl jedoch rapide in den einstelligen Bereich ab. Die einzige Ausnahme bilden die Kulturspartensender Arte und 3sat. Hier wird die Filmkunst noch gewürdigt, das kulturelle Erbe hat noch einen Platz – auch in den entsprechenden Mediatheken.

Doch selbst diese Ausnahmen sind bedroht. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk spürt die Folgen des allgemein präsenten Spardrucks. Die Bundesländer haben sich im letzten Jahr auf eine Strukturreform geeinigt, bei der die Spartensender unter die Räder kommen: Vorgeschlagen wird, dass Arte und 3sat zusammengelegt werden sollen.

Der Ursprung ikonischer Szenen

Filme referenzieren sich ständig gegenseitig: eine Inspiration, Hommage, Referenz, Parodie, ein bestimmter Shot, eine Dialogzeile oder gar ganze Handlungsstränge und auch technische Aspekte wie die Kameraführung oder den Schnitt. Filmemacher*innen sind schon immer angetrieben von ihren Vorgänger*innen. Ohne den Zugang zu früheren Werken wäre so mancher Film gar nicht entstanden – viele ikonische Bilder würden fehlen.

Die Filme von morgen sind immer noch verbunden mit denen aus der Stummfilm-Epoche, sei es durch direkte Inspiration oder indirekt von Film zu Film zu Film. Die Nacht des Jägersaus 1955 ist ein Paradebeispiel dafür. Der amerikanische Schwarzweißfilm von Regisseur Charles Laughton ist inspiriert von der Sstimmungsvollen Visualität der Stummfilme und vom deutschen Expressionismus zum Beispiel aus Das Cabinet des Dr. Caligari(1920). Elemente von Laughtons Film finden sich wiederrum in David Lynchs Dune (1984), Spike Lees Do the Right Thing(1989), The Big Lebowski(1998) und True Grit(2010) von den Coen Brüdern sowie in Guillermo del Toros Shape ofWater(2017) und vielen mehr.

Verstaubt, verblasst, vergessen und verschollen

Was bleibt also von Hitchcock, Wilder, Huston, Arzner oder Ford? Mit ihren Werken werden lediglich Cineast*innen und Filmstudierende vertraut sein. Die Schule, der originäre Ort für kulturelle Bildung, kann diesem Auftrag schon lange nicht mehr adäquat nachkommen. Filme stehen im Lehrplan nicht besonders weit oben, obwohl gerade das deutsche Kino der 1920er Jahre für die Filmgeschichte bahnbrechend war. Avantgardistische Regisseur*innen wie Fritz Lang, Leontine Sagan oder F. W. Murnau drehten im Berlin der goldenen Zwanziger Filme, deren Bedeutung bis in die Gegenwart nachhallt. So erschien erst kürzlich mit Robert Eggers Nosferatu ein Remake, eines deutschen expressionistischen Stummfilms aus dem Jahr 1922.

Das Original wurde auf Anordnung eines Gerichtes in Deutschland vernichtet, da es Urheberrechte von Dracula verletzte. Durch Kopien aus dem Ausland blieb er der Nachwelt jedoch erhalten. Dieses Glück hatten nicht viele Stummfilme, die meisten sind unwiederbringlich verloren. Schätzungsweise 80 Prozent aller Stummfilme gelten als verschollen. Das ist in vielen Fällen verkraftbar, schon früh wurde der Film als Inbegriff der technisch reproduzierbaren Kunst zur Massenware. Aber es gibt eben doch viele bewahrenswerte Klassiker. Darum kümmert sich das Deutsches Filminstitut &und Filmmuseum (DFF) in Frankfurt am Main mit dem dazugehörigen Archiv in Wiesbaden. Dort wird aufwendig das sensible Filmmaterial restauriert, das oft von der Zeit gezeichnet ist. Zu einer Ausstrahlung kommt es aber meist nicht: Die Vertriebsrechte gelten häufig nur fürs Kino und eben nicht fürs Streaming.

In den USA setzt sich vor allem Martin Scorsese mit seiner ›The Film Foundation‹ für die Erhaltung der Filmgeschichte ein. In Zusammenarbeit mit Archiven und Studios konnten so seit der Gründung 1990 über 1 000 Filme restauriert werden. Scorsese wiederum bezeichnet Vertigo als seinen Lieblingsfilm von Hitchcock.

Die Zukunft von Schwarz-Weiß liegt im Streaming

Was also, wenn der Zugang zu diesen Werken immer schwieriger wird und manche nur noch als Glücksfund auf dem Flohmarkt ergattert werden können? Die Hürde, sich mit alten Filmen auseinanderzusetzen, ist für Normalverbraucher*innen (Nicht-Cineast*innen) bereits zu hoch.

DVDs und Blu-Rays verschwinden still und leise vom Markt. Sony etwa stellt die Produktion von Blu-Rays komplett ein. Zukünftig wird es so sein, dass Filme nahezu ausschließlich per Streaming angeschaut werden. Deswegen braucht es Maßnahmen, die genau hier ansetzen.

Nur wer ist dafür in der Verantwortung? Die Streamingplattformen selbst? Die Studios? Oder gar die Kultur- und Bildungspolitik? Der Profit- und Spargedanke steht oft im Weg. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass Filmliebhaber*innen es selbst in die Hand nehmen müssen. Ehrenamtliche Arbeit und Spendengelder, die auch schon in die Restaurierung fließen, müssten auch in die Distribution investiert werden. Aber noch viel wichtiger: Wir müssen selbst die Nachfrage schaffen.

Spannungsbögen für die Ewigkeit

Im Herbst seiner Karriere wurde Hitchcock von François Truffaut interviewt. In unfassbaren 50 Stunden redeten sie über seine komplette Filmographie. Truffaut strebte danach, die Filme, die er so bewunderte, besser zu verstehen. Als es über um den ›dolly zoom‹ in der Turmszene von Vertigo geht erklärt Hitchcock die Hintergründe. Über 15 Jahre dachte er darüber nach, wie er den Effekt technisch umsetzen könnte, denn er wollte ihn schon in früheren Filmen anwenden. »Als wir bei Vertigo ankamen, lösten wir das Problem, indem wir den ›Dolly‹ (Wagen) und den Zoom gleichzeitig verwendeten.«  Für den Effekt fährt eine Kamera auf einem ›Dolly‹ auf ein Objekt zu und zoomt gleichzeitig zurück.

Diese technische Raffinesse zeichnete Hitchcock aus und machte ihn zum Vorbild. Dazu schaffte er es, die Spannung (›Suspense‹) in seinen Filmen perfekt aufzubauen, bis die Zuschauer*innen es nicht mehr in ihren Kinositzen aushielten. Die viel zitierte Duschszene in Psycho ist wohl das berühmteste Beispiel dafür. Sie hat bis in die Gegenwart nichts von ihrer Wirkmächtigkeit eingebüßt und zeigt, wie Nervenkitzel die Menschen heute wie damals in seinen Bann zieht.

Tore studiert Politikwissenschaft und Philosophie an der CAU. Er leitet seit Februar 2025 das Kulturressort. Schwerpunktmäßig setzt er sich mit Filmen und politischen Themen auseinander.

Michelle studiert Englisch und Wi/Po. Sie ist seit 2024 beim Albrecht, seit 2025 leitet sie den Weißraum und ist dort unter anderem verantwortlich für die Fotostory-Serie Schwibbventures.

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