Wenn die Augen nur noch Feinde sehen, die Nase nur Fremdes riecht und die Ohren nur noch Stille wollen, dann beginnt der geistige Verfall des Krieges:
Der angegriffene Geist entpuppt sich als anpassungsfähiger Geselle. Er arbeitet und lässt den Besitzer nicht zu nahekommen. Solange das Gestell in Takt ist, wird er funktionieren. Doch wenn die Angst zu groß wird, zweifelt er. Und wenn die Müdigkeit den Strom stört, träumt er. Und wenn das Quäntchen Euphorie fehlt, sucht er nach dem Sinn.
Das Gegenmittel: Panzerschokolade
Im Jahre 1937 patentierte der Berliner Pharmahersteller Temmler ein Herstellungsverfahren für einen Arzneistoff, welcher 1938 als Pervitin auf den Markt kam. Angedacht war dieser als ‚Muntermacher’ und ‚Aufputschmittel’ für Jedermann. So wurde die Substanz nach amerikanischem Vorbild vermarktet und gewann an Popularität. Solch ein Konzept kennt man bereits aus Kampagnen für Frauengold, ein medizinisch beworbenes Wunderfläschchen für mieslaunige Mütter, in dessen Innerem sich lediglich Schnaps befand. Die kleine Nuance zwischen Spaßtabletten und Freude-Kurzen liegt im Wirkstoff. Pervitin ist nichts anderes als Methamphetamin oder szene-typisch Crystal Meth.
In der Medizin wurde der Wirkstoff ausgiebig untersucht. So schrieb W. Seifert von der Universität Leipzig im Sommer 1939:
„Es zeigt sich, daß nach Pervitin Erscheinungen einer ‚Angeregtheit, eines aktivitätssteigernden Zustandes und Fehlens des Schlafbedürfnisses’ auftraten. Es war möglich, ‚psychische Hemmungserscheinungen in zum Teil recht eindrucksvollem Maße zu beeinflussen.’“
Die nützliche Wirkung von Pervitin blieb auch der nationalsozialistischen Führungsriege nicht verborgen. So fand es vor allem in den ersten zwei Jahren des verheerenden Zweiten Weltkrieges Verwendung. Während des Überfalls auf Polen sowie Frankreich wurde Pervitin in Massen ausgegeben. Die Leistungsfähigkeit stieg, Müdigkeit war zweitrangig und die Schrecken des Krieges wurden von Wagemut gebrochen. Allein im Frühsommer 1940 bezog die Wehrmacht 35 Millionen Tabletten.
Im Volksmund entstanden saloppe Bezeichnungen für die begehrten Soldatenpräparate. Panzerschokolade oder Fliegermarzipan nahmen Einzug in die Umgangssprache. So schrieben dem Konsum verfallene Soldaten Briefe in die Heimat, in deren Inhalt sie dringlichst um die Zusendung von Panzerschokolade bettelten.
Nachdem die innere wie auch mediale Kritik an Pervitin stieg, änderten die Nationalsozialisten 1941 das Reichsopiumgesetz, welches ein Rezept für die Abgabe zur Bedingung machte. Folglich ging auch die Verwendung in der Bevölkerung zurück, jedoch nicht in der Armee. Mit stetigem Konsum wurde das Mittel Segen und Leid zugleich. Einige Soldaten berichteten von Wahnvorstellungen, Herzrasen und Schweißausbrüchen, andere waren paranoid und unkontrollierbar. Trotz der Erfahrungen blieb Pervitin auch nach Ende des Krieges ein fester Bestandteil des Militärs. Erst im Laufe der Zeit wurden die Tabletten aus dem medizinischen Sortiment verbannt.
So kommt es, wenn die Augen falsche Schatten sehen, die Nase nichts mehr riecht und die Ohren nur noch Piepen hören, dass der geistige Verfall bereits vollendet ist. Euphemismen wie Panzerschokolade täuschen nicht darüber hinweg, dass der Zweite Weltkrieg eines der schlimmsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte markiert. Das diesmonatige ‚Was ist eigentlich’ soll aufklären und steht im Zeichen des 78. Jahrestags des Weltkriegsendes.
Karl ist 20 Jahre alt und studiert Geschichte sowie WiPo an der CAU. Er schreibt seit dem WiSe 23/24 für den Albrecht und ist zuständig für die Online-Redaktion.