Über die (Un)Vereinbarkeit von Pflege und Studium
Immer mehr Studierende helfen bei der Pflege von erkrankten Familienangehörigen und Partner*innen. Laut dem Centrum für Hochschulentwicklung machen Pflegende im Jahr 2023 etwa zwölf Prozent der Studierendenschaft aus. Damit liegt ihr Anteil höher als der von Studierenden mit Kindern. Fünf Prozent der Menschen, die ihr Studium unterbrochen haben, taten dies aufgrund der Pflege von Angehörigen.
Wenn sich alles plötzlich ändert
Während andere Studis unbeschwert in ihr erstes Semester starteten, zu Partys gingen und ihr neues Studierendenleben genossen, brach meine Welt zusammen. In der ersten Woche im Bachelorstudium bekam meine Mutter die Diagnose ›Triple Negativ Brustkrebs‹, eine besonders aggressive und tödliche Tumorart mit wenigen Therapiemöglichkeiten. Drei Jahre zog sich die Erkrankung, bis zu ihrem Tod. So oft es ging, fuhr ich nach Hause und half meiner Familie bei der Pflege. Andere Studierende mit erkrankten Angehörigen, die ich kennenlernte, waren genauso hilflos und überfordert wie ich. Wie es sich anfühlt, die eigene Mutter zu waschen, anzuziehen, zu füttern und ihr Medikamente zu geben, ist schwierig in Worte zu fassen. Im Nachhinein weiß ich nicht, wie ich jahrelang studiert, nebenbei gearbeitet habe und ständig zu meiner Familie gependelt bin. Mir wurde immer wieder gesagt: »Du bist so stark, ich könnte das nicht!« Das hat mich wütend gemacht, weil ich mich nicht stark gefühlt habe und mit der Zeit immer erschöpfter wurde.
Das Leben ging weiter
Rückblickend würde ich einige Dinge anders machen. Besser auf meine mentale Gesundheit achten, mir mehr Unterstützung suchen und häufiger mit Freund*innen sprechen. Wenn Leute mich fragen, wie ich die Zeit überstanden habe, antworte ich ehrlich: Ich habe es getan, weil ich musste. Das Leben ging weiter, egal wie überfordert ich damals war. Die beste Entscheidung war für mich, zu einem Psychoonkologen zu gehen. Psychoonkolog*innen betreuen und unterstützen Krebspatient*innen und deren Angehörige. Das war der einzige Ort, an dem ich offen und ehrlich über all meine Emotionen, Überforderung und Sorgen sprechen konnte. Lernen musste ich auch, besser Grenzen zu setzen. Aus Angst vor ihrem Tod wollte ich so viel Zeit wie möglich mit meiner Mutter verbringen, weswegen ich lange meine eigenen Bedürfnisse vernachlässigt habe. Jedoch habe ich gelernt, dass ich mich nur um eine andere Person kümmern kann, wenn es mir gut genug geht.
Studieren mit Nachteilsausgleich
Alle Dozierenden, denen ich meine Situation geschildert habe, waren verständnisvoll und haben mir Verlängerungen für Hausarbeiten und Prüfungsleistungen gewährt. Ich wusste damals nicht, dass es möglich ist, offiziell einen Nachteilsausgleich beim Prüfungsamt zu beantragen, sofern es einen Nachweis für die Pflegetätigkeit gibt. Ein Nachteilsausgleich kann dafür sorgen, dass Studierende mit pflegebedürftigen Angehörigen verlängerte Bearbeitungszeiten für Abschlussarbeiten und Hausarbeiten bekommen, Ersatzleistungen ablegen dürfen und Wahlmöglichkeiten bei Veranstaltungen haben. Außerdem kann ein Urlaubssemester oder ein Teilzeitstudium beantragt werden. Die BAföG-Förderdauer kann ebenfalls verlängert werden. Wenn es finanziell möglich ist, kann es helfen, sich mit dem Studium Zeit zu lassen.
Beratungsangebote für Studierende
Der Familienservice der CAU bietet eine allgemeine Beratung zum Thema Pflege an und hilft bei Schwierigkeiten mit Dozierenden oder Prüfungsämtern. Das Studentenwerk berät Studierende beim Thema Studienfinanzierung und der Vereinbarung einer belastenden Situation mit dem Studium. Im Hinblick auf die Studienorganisation und eine mögliche Unterbrechung des Studiums können sich Studierende an die Zentrale Studienberatung wenden. An der CAU gibt es die Selbsthilfegruppe Pflege, in der sich Studierende und Beschäftigte anonym per Mail zu Pflege-Themen austauschen können. Betroffene müssen nicht still leiden und stark belastet weiterstudieren. Ich möchte jede*n ermutigen, Unterstützung und Beratungsangebote anzunehmen.
Mehr Informationen findet ihr hier: www.familienservice.uni-kiel.de/de/pflege und www.che.de/download/pflegende-studierende/
Annika studiert Deutsch und Englisch im Master. Seit April 2024 ist sie Teil der Albrecht-Redaktion und des Social Media Teams.