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»Extrem laut und unglaublich nah«:
Wenn die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen  

Seit über einem Jahr im Kieler Ensemble und nun endlich in einer Hauptrolle zu sehen: Tristan Taubert begeistert als »Oskar« bei der Premiere von Jonathan Safran Foers »Extrem laut und unglaublich nah« vor ausverkauftem Haus. Beim Anschlag auf das World Trade Center verliert Oskar seinen Vater Thomas, dem er sich jedoch immer noch nahe fühlt und ihm sporadisch in seinen Gedanken begegnet. Als er einen geheimnisvollen Schlüssel findet, glaubt er an eine versteckte Botschaft und begibt sich auf eine Suche quer durch New York. Während er das Rätsel zu lösen versucht, verändert die Reise nicht nur seine Sicht auf die Welt, sondern hilft ihm auch, seine Einsamkeit zu überwinden.   

Tristan Taubert war am Theater Kiel bisher nur in Nebenrollen wie Officer Brophy in »Arsen und Spitzenhäubchen«, als Schaffner in »Der Besuch der alten Dame« oder als Benvolio in »Romeo und Julia« zu sehen. In der neuen Produktion von Regisseurin Nora Bussenius umgibt den 27-Jährigen eine unglaublich fesselnde Bühnenpräsenz. Dabei ist die Rolle, in die er zu schlüpfen hat, ganz und gar nicht einfach: Als neunjähriges, überdrehtes und traumatisiertes Kind gibt Oskar so viele Anmerkungen und Lexikoneinträge von sich, dass es im Grunde verwunderlich ist, dass Souffleuse Ilona Rückwardt nicht ein einziges Mal einspringen musste.  

Leuchtende Rollen und starkes Ensemble  

Oskar spielt seine Eltern nach dem Tod seines Vaters oft gegeneinander aus, Jennifer Böhm verkörpert eindringlich, dass seiner Mutter dies schwer zu schaffen macht. Sie versucht, ihre gute Laune zu bewahren und Oskar trotz seines Verlustes ein behütetes Leben zu ermöglichen. Thomas, Oskars Vater, unterstützt sie dabei und hält auch über seinen Tod hinaus eine schützende Hand über ihr gemeinsames Kind. Christian Kämpfer umspielt den Jungen als liebevoller Vater und fordert immer wieder seinen Entdeckergeist heraus.

Komplettiert wird das Ensemble von Regine Hentschel und Zacharias Preen als Oskars Großeltern sowie Eva Kewer in der durchaus geheimnisvollen Partie der Anna. Durch verschiedene, mal schnelle, mal ausgedehnte Rückblenden in die Jugend der Großeltern, werden verschiedene Mehrgenerationen-Traumata aufgedeckt, die das Publikum Stück für Stück anders auf Oskars Familie und die Gefühlswelten ihrer Mitglieder blicken lässt. Preen spielt den verstummten Großvater, der bereits viele Jahre vor der Geburt seines Sohnes Thomas abgehauen ist, energiegeladen und aufbrausend, lässt dennoch keinen Zweifel daran, dass seiner Figur in jungen Jahren Schlimmes widerfahren sein muss. Als Großmutter kümmert sich Regine Hentschel zart und liebevoll, aber auch aufgeschlossen in Momenten größter Verzweiflung um ihren Enkel Oskar.

»Man kann sich nicht vor Traurigkeit schützen, ohne sich gleichzeitig vor Glück zu schützen.«  

Oskars Großmutter

Anna kann mit ihrer Präsenz im Stück beim Publikum wohl ein wenig Verwirrung hervorrufen. Diesem scheint sich Eva Kewer durchaus bewusst zu sein und sorgt mit kurzen schnippischen Einwürfen immer wieder dafür, nicht in Vergessenheit zu geraten.  

Sämtliche Personen, die Oskar auf seiner Suche nach dem passenden Schloss zum gefundenen Schlüssel in New York abklappert, werden von der Statisterie des Theaters verkörpert. Und nur verkörpert. Die Statist*innen sprechen nicht und werden stets von einem sprechenden Mitglied des sechsköpfigen Casts begleitet, das ihnen die Stimme leiht – in manchen Szenen gar puppenspielerhaft Bewegungen hervorruft. Ein besonderer Kniff der Inszenierung, der sehr gut funktioniert und das Stück durch ein ganz eigenes Brennglas der Traumabewältigung scheinen lässt.  

Schauderhafte 9/11-Kulisse

Modern gekleidet in schwarz, orange und weiß und mit abstrakten neonorangen Mustern auf den Gesichtern, bilden die Protagonist*innen einen starken Kontrast zum düsteren Bühnenbild (Ausstattung: Sebastian Ellrich). Ein schwarzer Turm mit Leitern und zwei Ebenen dreht sich unermüdlich im Kreis, während die Schauspieler*innen darauf klettern oder sich außen herumbewegen. Ähnlich wie der vor Energie strotzende Oskar steht das Bühnenbild selten still. Immer wieder sorgt Nebel, der den Turm umhüllt, für eine intensive, emotional aufgeladene Atmosphäre. Die Spannung zwischen orange, schwarz und weiß spiegelt die Grenze zwischen den Toten und den Lebenden wider, welche im Verlauf des Stücks immer weiter verschwimmt. 

In Zeiten, in denen sich Anschläge zu häufen und die Gesellschaft sich zu spalten scheinen, entführt Nora Bussenius die Zusehenden mit »Extrem laut und unglaublich nah« am Kieler Schauspielhaus in eine oft verwirrende, aber dennoch nahbare Welt voller Ungewissheit und Existenzangst auf der Suche nach einem Happy End für Oskar.


Restkarten für Termine von Ende Februar bis Anfang Juni sind online und an der Theaterkasse erhältlich. Schnell sein lohnt sich. Studis gehen für acht Euro oder mit dem im Semesterbeitrag enthaltenen Kulturticket sogar kostenlos ins Theater! 

Annika studiert Deutsch und Englisch im Master. Seit dem Sommersemester 2024 ist sie beim ALBRECHT. Außerdem ist sie Teil des Social Media Teams und unterstützt das Lektoratsteam.

Chefredakteur

Finn ist seit Februar 2024 Chefredakteur des ALBRECHTs. Zuvor hat er ein Jahr lang das Kulturressort geleitet. Für unser Blatt sitzt er häufig in der Oper, im Theater oder im Konzertsaal. Er studiert Englisch und Geographie auf Lehramt und ist seit dem WiSe 22/23 Teil der Redaktion.

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