Hermann Hesse schildert in seiner 1906 erschienenen Erzählung die Geschichte des Sohnes von Joseph Giebenrath. Der Witwer und Zwischenhändler ist stolz auf seinen Zögling, der in Stuttgart das Examen wider Erwarten als Zweitbester bestanden hat und jetzt zur Bildungselite gehört. Der Weg für Hans ist ab diesem Zeitpunkt vorgezeichnet: Das Seminar in der Klosterschule Maulbronn soll aus ihm einen fähigen Pastor machen. In seiner heimischen Schule ist Hans seinen Mitschülern bereits weit überlegen. Lehrer, Nachbarn und sogar der Stadtpfarrer sind sich sicher, dass der Junge mit besonderen Fähigkeiten gesegnet ist; der Weg ins Kloster ist ihnen zufolge der einzig logische Schritt.
Seine außerordentliche Begabung soll dem Griechisch und Latein paukenden Jungen noch zum Verhängnis werden. Während andere Kinder ihre Freizeit genießen, herumtollen und im See baden, bringt Hans herrliche Sommertage immer mehr mit dem Lernen zu, um sich auf die Klosterschule vorzubereiten. Dabei ist der junge Giebenrath eigentlich ein leidenschaftlicher Angler, der ruhige Momente in der Natur gerne auskostet. Trotzdem sind ihm Fleiß und Ehrgeiz keine Fremdwörter, weshalb er sich auf den Handel einlässt und unwissentlich seine Kindheit gegen das hehre Ziel eintauscht, in der Klosterschule Maulbronn zu bestehen.
Hesses frühe Erzählung ist mit rund 200 Seiten sehr überschaubar und gehört zu den weniger bekannten Werken seines Œuvres. Wer aber seine populäreren Erzählungen beziehungsweise Romane wie etwa Der Steppenwolf, für welchen er 1946 unter anderem den Nobelpreis für Literatur bekam, Siddartha oder Narziß und Goldmund kennt, weiß, dass Unterm Rad so wie viele andere seiner Erzählungen, die Entwicklung eines Protagonisten ins Zentrum rückt – ein typisches Merkmal für Bildungsromane. Hesses junger Giebenrath gerät in die schädliche Pädagogik-Maschinerie im Kloster, mit anderen Worten: Hans Giebenrath kommt unter die Räder und wird gebrochen. Der autobiografische Hintergrund ist nicht zu übersehen. Hesse war selbst einmal Schüler in Maulbronn.
Was für Germanisten ein gefundenes Fressen ist, kann für Schüler leidiges Aufarbeiten bedeuten: Beide versuchen zu klären, inwiefern Hesse seine Erfahrungen in der Erzählung verarbeitet und Kritik am Pädagogikwesen übt. Doch auch – oder gerade für Laien – bietet Unterm Rad nicht nur eine spannende Lektüre, die unerwartete Entwicklungen bereithält.
Der einfachen und schnörkellosen Sprache ist ihr Alter durchaus anzumerken. Gerade das verleiht der Erzählung für heutige Leser einen abstrakten Charakter und damit eine gewisse Zeitlosigkeit: Die Botschaften, die Hesse in dieser Erzählung verarbeitet, sind auch für die heutige Zeit relevant. Wie viele seiner anderen Werke, ermutigt sie den Leser dazu, sein eigenes Leben und seine Situation zu reflektieren. Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Welchen Weg möchte ich gehen? Tue ich das, was ich gerade mache, für mich oder um fremden Erwartungen gerecht zu werden? Gibt es nicht eigentlich noch viel Wichtigeres neben Leistung und Karriere?
Hans Giebenrath kann und darf sich diese Fragen nur bedingt stellen. Stattdessen erwarten ihn im Kloster strenge und fordernde Lehrer, in deren Gunst er stetig sinkt, vor allem weil seine Leistungen immer schlechter werden und er Freundschaft mit dem Träumer und Poeten Hermann Heilner schließt. Heilner, ebenfalls sehr begabt, ist ein Außenseiter und bei den Lehrern nicht beliebt, weil er sich dem System im Kloster nicht anpassen möchte. Aber Ausreißer kann das Kloster nicht gebrauchen, so kommentiert der Erzähler: „Ein Schulmeister hat lieber einige Esel als ein Genie in der Klasse.“ Hans entkommt den Rädern des Klosters unfreiwillig. Doch auch als er eine, zur Enttäuschung vieler, komplett andere Richtung einschlägt, bekommt er die Spätfolgen des Klosteraufenthaltes zu spüren. Neben der Entwicklung von Hans Giebenrath macht Hesse darüber hinaus auch Strafe, Mobbing, Tod sowie Liebe und Freundschaft zum Thema: Unterm Rad ist eine Erzählung, die für jeden Identifikationspotential bereithält und weitaus mehr als eine schulische Pflichtlektüre ist.
Titelbild mit freundlicher Genehmigung vom Suhrkamp Verlag
Lennard studiert seit dem Sommesemester 2018 Deutsch und Philosohie im Master. Er hat sich bewusst gegen ein Studium auf Lehramt entschieden. Seit Ende letztens Jahres ist er Mitglied der ALBRECHT-Redaktion. Zuvor absolvierte er ein Praktikum bei einer Lokalzeitung und arbeitete als Online-Redakteur.