Fehlende Wissenschaftlichkeit trifft auf verklärtes Selbstbild 

Sofort schaffte es die Netflix-Dokumentation Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur (Original: Ancient Apocalypse) in die Top Zehn der beliebtesten Serien. Das ist nicht überraschend, denn der Trailer verspricht ein Binge-Erlebnis für die Zuschauenden. Wir begleiten den Journalisten und Autor Graham Hancock auf seinen Reisen um die Welt, bei denen er eine Frage beantworten will: Gab es zur Zeit der „Jäger und Sammler” eine hochentwickelte Gesellschaft, von der wir noch gar nichts wissen? 

Die Menschen vor den Menschen 

Hancock stellt uns jede Folge eine andere Ausgrabungsstätte vor und setzt sie in Zusammenhang mit seiner Theorie: Seiner Meinung nach entstanden die ersten Zivilisationen nicht 6 000 Jahre v. Chr., sondern viel früher. Rund 12 000 Jahre v. Chr., zum Ende der letzten Eiszeit. Er behauptet, dass die besuchten Ruinen älter sein müssten, als angenommen. Und dass die Menschen, die in diesem Zeitraum gelebt haben, über mehr technische Leistungsfähigkeit verfügt haben, als wir glauben.   

Wir wissen heute nur nichts mehr von ihnen, weil wir laut Hancock nach einer globalen Sintflut einer kollektiven Amnesie verfallen seien. Und trotzdem findet er „bestätigende” Anzeichen, wie die Konstellationen bestimmter Sterne, nach denen die Ruinen ausgerichtet seien und verschiedene Sintfluterzählungen unterschiedlicher Kulturen. 

Seine Theorien wecken natürlich Neugier. Doch es dauert nicht lange, da kommt Skepsis auf. Jede Folge beginnt damit, dass Hancock den aktuellen Stand der Wissenschaft ‚trashtalkt’ und der Meinung ist, dass ihn Archäolog:innen dafür „hassen” würden, dass er anders über die Menschheitsgeschichte denkt. Allerdings kommen die Verprellten erst in der letzten Folge kurz zu Wort, ihre Ansicht zu Hancocks Theorien wird ansonsten nie erwähnt. Es ist stark zu bezweifeln, dass er tatsächlich ‚gehasst’ wird, immerhin lebt die Wissenschaft davon, dass auch in andere Richtungen gedacht wird und unzählige andere Geschichtsdokumentationen haben genau diesen Ansatz.  

Er nennt sich „Staatsfeind Nr. 1” 

Der Brite hat seit den 90er Jahren zwölf Bücher geschrieben, in denen er sich mit ähnlichen Theorien beschäftigt. Er selbst sieht sich als eine Art Underdog, als einen Neudenker unserer Geschichte und vor allem als einen David, der gegen den akademischen Goliath kämpft. Denn seine Thesen finden keinen Anklang, sondern werden kontrovers gesehen. Belege für seine Theorien sind größtenteils nur seine persönlichen Auslegungen von archäologischen Funden, egal wie weit hergeholt das für andere – vor allem Wissenschaftler:innen – klingt.  

Daher bekommen wir bei Hancock eher den Eindruck, dass er die berechtigte Kritik nicht verkraftet und mit seiner Dokumentation nun gegen sie angehen will. Allerdings wirkt er wie ein trotziges Kind, dass um Aufmerksamkeit bettelt und bei Nichtbeachtung schreit, dass eh alle anderen doof seien. Geht es in dieser Doku wirklich um die Frage nach der Existenz längst vergessener Gesellschaften – oder um das Ego eines alternden Mannes? 

Genauso problematisch sind seine ‚Expert:innen’ in der Doku. Wer auf die kurz eingeblendeten Namen und Berufe der Personen achtet, merkt schnell: Diese Menschen sind genauso wenig Wissenschaftler:innen wie Hancock selbst. Neben Joe Rogan, dem umstrittenen Comedian und Podcaster, dem die Verharmlosung der Corona-Pandemie vorgeworfen wurde, kommen auch andere Buchautor:innen zu Wort.  

Darunter Mark Vigato. Praktischerweise hat dieser Anfang des Jahres ein Buch herausgebracht – in dem er sich wiederholt mit der Suche nach Atlantis beschäftigt. Zusammen mit Vigato steht Hancock an Ruinen, sie stellen sich vor, welchen Sinn diese Ruine einmal gehabt haben könnte, und die unprofessionelle Meinung Vigatos wird als Tatsache präsentiert. Eine Qualifikation für solches Fachsimpeln haben beide jedoch nicht und ihr Gespräch ist daher der Fantasie zweier zugegeben kreativer Schriftsteller zuzuordnen.  

Wenn es nur nicht cineastisch so gut gemacht wäre 

Und doch erwischt man sich dabei, fasziniert zuzuhören. Nicht alles kann reiner Zufall sein, oder? Doch letzten Endes sorgt Hancock selbst dafür, dass seine Reliabilität ins Wanken gerät. Der Anschein der Wissenschaftlichkeit wird von ihm weder gekonnt aufrechterhalten noch weiß er seine Gefühle zu unterdrücken.

Einige dargelegte Fakten mögen in der Tat korrekt sein, aber die Forschungsmethoden werden nicht erläutert, die Ergebnisse einseitig präsentiert. Wie Hancock und sein Team ihre Argumentation aufbauen, ist kaum nachvollziehbar. Es drängt sich fast schon die Frage auf, warum Hancock nicht auch noch die Illuminati oder Aliens ins Spiel bringt. 

Diese Doku ist also mit Vorsicht zu genießen, aber sie kann genossen werden. Wer Hancock nicht zu sehr zuhört und sich eher die Bilder anschaut, bekommt tatsächlich ein paar Informationen zu Ruinen, die wir noch nicht bei TerraX gesehen haben. Aber wir sollten uns dann lieber andere Dokumentationen zu diesen Orten anschauen und nicht Hancocks Serie, die zwar ein lustiges Gedankenspiel bereithält – viel mehr aber auch nicht. 

Autor*in

Eileen studiert Soziologie/Philosophie und war von Januar 2022 bis Anfang 2024 Chefredakteurin. Sie leitete von Februar 2019 bis Anfang 2020 das Ressort für Gesellschaft. Danach war sie stellvertretende Chefredakteurin. Außerdem werden viele der Illustrationen im Albrecht von ihr gezeichnet.

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