So sollte nun wirklich kein Leben anfangen: Aus dem Samen eines Schwerverbrechers, der in den Körper eines hirntoten Mädchens gepflanzt wurde, im Labor gezeugt, erblickt ein Baby unter der Obhut eines skrupellosen Wissenschaftlers das Licht der Welt. Um das Kind zur perfekten Tötungsmaschine zu instrumentalisieren, werden ihm die Gefühle operativ entfernt und jede menschliche Nähe verwehrt. Als einziges Spielzeug dienen dem Jungen Goldstücke, die eine Fixierung auf das Finanzielle herbeiführen sollen.
Mit diesen Szenen beginnt die Science-Fiction-Trilogie „Showman Killer“, die der alte Autoren-Haudegen Alejandro Jodorowsky und sein aufstrebender Zeichen-Sklaven Fructus nun mit dem dritten Band „Die unsichtbare Frau“ abschließen. Mehr als eine Space-Opera ist das Ergebnis aber ein Musterbuch pädagogischen Fehlverhaltens aus einer Welt, in der die Super-Nanny ihren Job nicht erst nach gefühlt 48. Staffel, sondern bereits nach fünf Minuten hingeschmissen hätte.
Besonders der Killer selbst gebiert sich, sobald er das Erwachsenenalter erreicht hat, als Produkt der Erziehung, die er genossen hat: Er meuchelt erst seinen Schöpfer und sich dann für den Höchstbietenden kreuz und quer durch die Galaxis – ein Leichtes dank überragender Kampfkünste und der Möglichkeit, sich in jegliche Menschen und Tiere zu verwandeln. Doch dann klebt ihm in Folge einer Intrige gegen das intergalaktische Königshaus plötzlich ein royaler Säugling an den Hacken, den es um jeden Preis zu beschützen gilt. Wie aber fügt sich ein Mann mit dem Hintergrund des Showman Killers in die unfreiwillige Vaterrolle?
Zunächst einmal tauft er den Jungen auf den Namen „Nein“ (das ist ein echter Brüller auf Partys und klingt auch noch besser als beispielsweise Jeremy-Pascal) und beschleunigt sein Wachstum in einem Turbobrutkasten, damit das lästige Stillen und Windelwechseln entfällt. Nachdem er ihn in ein Kampftraining geschickt hat, dass das Kind nur knapp überlebte, geht es gemeinsam auf, die Galaxis vor dunklen Mächten zu retten und neue Untiefen in den Familienverhältnissen des Killers freizulegen.
Dabei verknüpft „Die unsichtbare Frau“ die offenen Enden der Vorgänger schlüssig zu einem grandiosen Finale, steigert dabei aber das Maß an groteskem Humor und absurden Situationen in die das ungleiche Quasi-Vater-und-Sohn Gespann gerät. „Showman Killer“ funktioniert hervorragend als durchgehende Geschichte, weshalb die Aufteilung in drei Bände rückblickend etwas unglücklich erscheint – mit einem Umfang von lediglich 162 Seiten hätte man den Comic problemlos auch gleich als Gesamtausgabe veröffentlichen können. Aber sei’s drum: Der Showman und seine Sippe lassen das allabendlich im Privatfernsehen bloßgestellte Prekariat aussehen wie Musterbeispiele eines Erziehungsratgebers und bieten dem nach pädagogischen Katastrophen gierenden Publikum endlich eine Alternative jenseits des Bildschirms. Im Weltraum hört dich eben keiner schreien – besonders das Jugendamt nicht.
Jodorowsky, Alejandro/Fructus: Showman Killer 1-3. Ehapa Comic Collection. Je 54 Seiten Hardcover (farbig), 15 Euro.
Comics des Monats
„Die Insel der 100.000 Toten“
Titel: Die Insel der 100.000 Toten
Autor: Fabien Vehlmann (Skript), Jason (Zeichnungen).
Verlag: Reprodukt. 56 Seiten (farbig), Softcover. 15 Euro.
Was sollte man als allgemein respektierter, aber eher unbekannter Comicautor, der im Schatten der Serien an denen er arbeitet steht, unbedingt vermeiden? Klar, mit einem genialen Zeichner zu arbeiten, dessen Kunst es aussehen lässt, als sei man gar nicht dabei gewesen. Fabien Vehlmann („Spirou und Fantasio“) hat diesen schlimmstmöglichen Fauxpas begangen. Für „Die Insel der 100.000 Toten“ holte er sich das norwegische Unikum Jason („Ich habe Adolf Hitler getötet“) ins Boot und entwarf mit ihm eine Art „True Grit unter Freibeutern“. Darin heuert die junge Gweny auf der Suche nach ihrem verschollenen Vater eine Horde Piraten an, mit denen sie zu der sagenumworbenen Insel schippert, auf die sich ihr Erzeuger einst zur Schatzsuche begab. Was sie dort erwartet ist jedoch weder Gold noch Juwelen, sondern ein Internat für Henkerslehrlinge mit immensem Bedarf an lebendigen Unterrichtsmaterialien. Vehlmann entwickelt aus dieser Konstellation eine schön abseitige Räuberpistole, die Jason mit seinen charakteristischen, stoischen Hunde- und Katzenfiguren in Szene setzt. Die verziehen selbst im Angesicht des Todes keine Mine, was zusammen mit Jasons gleichmäßigen Seitenkompositionen eine Hyper-Lakonik erzeugt, die an Kaltschnäuzigkeit nicht mehr zu überbieten ist. Unlängst lässt sich das Schaffen des Norwegers kaum mehr als beispielloser Stil beschreiben – vielmehr hat man es hier schon mit einem eigenen Genre zu tun. Vehlmann hingegen kann sich hier damit trösten, dass sein Name von einem Meisterwerk des Comics prangt. Auch wenn kaum ein Leser dieses mit ihm in Verbindung bringen wird. (9)
„Holy Terror“
Titel: Holy Terror
Autor: Frank Miller
Verlag: Panini Comics. 124 Seiten (s/w, teilweise farbig), Hardcover. 29,95 Euro.
Viel hätte man nicht mehr auf das Erscheinen von Frank Millers („The Dark Knight Returns“, „Sin City“, „300“) „Holy Terror“ gewettet. Jahrelang quälte sich der Geburtshelfer des modernen Comics mit der Geschichte herum, die ursprünglich als eine Art „Batman gegen Al Quiada“-Story gedacht war. Aufgrund des brisanten Themas verzichtete er schließlich auf die Verwendung der Serien-Figuren, stattdessen agiert nun „der Richter“, der abseits des Fehlens von spitzen Ohren frappierende Ähnlichkeit mit der dunklen Ritter aufweist. Zusammen mit seiner Gespielin, der Katze (hier hat sich Miller nicht die geringste Mühe gegeben, sein Vorbild zu verschleiern), rückt er gegen eine Armee muslimischer Fanatiker ins Feld, die Central City (sprich: New York) dem Erdboden gleich zu machen gedenkt. Miller übersetzt diesen Kampf in Bilder, die erstmals seit 15 Jahren wieder seine beispiellose visuelle Meisterschaft verdeutlichen: Die expressionistischen Zeichnungen lassen einen Chaos, Bedrohung und Verfall beinahe physisch spüren, die Variation des Seitenlayouts führt vor, was im Comic alles möglich ist und Millers Talent, mit minimalem Farbeinsatz beeindruckende Effekte zu erzielen (besonders effektiv: das pinke Einfärben eines Kampfes unter Wasser) ist ohnehin einzigartig. Andererseits wirkt die rein gewaltsame Lösung ideologischer Konflikte unweigerlich flach und kolportageartig, überhaupt hat die Geschichte den unschönen Beigeschmack einer Allmachtfantasie, in der omnipotente Helden 9/11 rückgängig machen. In seiner zwiespältigen Gestalt passt „Holy Terror“ jedoch besser in die Gegenwart, als jeder andere Superheldencomic („Kick-Ass“ einmal ausgenommen) – Millers Blickwinkel mag diskutabel sein, er ist aber auch eine originäre Sicht auf die Welt in der wir leben. (7)
„Enemigo“
Titel: Enemigo
Autor: M.A.T. (Skript), Jiro Taniguchi (Zeichnungen).
Verlag: Schreiber&Leser. 293 Seiten (s/w, teilweise farbig), Softcover. 16,95 Euro.
Noch ein Meister: Wenn man einen Manga-Zeichner als subtil, kultiviert und introspektiv bezeichnen kann, dann Jiro Taniguchi, der von Kritik und Publikum gleichermaßen für seine Sensibilität alltäglichen Geschichten gegenüber geschätzt wird. Das war allerdings nicht immer so, wie die deutsche Erstveröffentlichung seines Actionthrillers „Enemigo“ aus dem Jahr 1984 zeigt. Im Gegenteil: Hier wird am laufenden Band geschossen wie gestorben und einmal sogar überraschend offenherzig kopuliert – vor allem letzteres hätte wohl selbst der Kenner nicht aus Taniguchis Feder erwartet. Auch die Story um einen japanischen Privatdetektiv, der in den Wirren eines südamerikanischen Bürgerkriegs nach seinem entführten Bruder sucht, ist ungewöhnlich direkt und schnörkellos erzählt. In seiner Schlichtheit droht die Geschichte, die überdeutliche Anleihen bei Film Noir und dem Actionkino der Achtziger (besonders dem James-Bond-Film „In tödlicher Mission“) macht, ins Eindimensionale zu kippen, doch Taniguchi gewinnt gerade aus dieser Beschränkung und den verwendeten Archetypen eine narrative Kraft, die „Enemigo“ sowohl zu einem Ereignis, als auch zur willkommenen Abwechslung in seinem zuletzt doch etwas gleichförmig gewordenen Gesamtwerk macht. Als solche ist „Enemigo“ heute sogar von größerem Wert als 1984. Und welches Kunstwerk aus dieser Zeit kann das schon von sich behaupten? (8)
„Geliebter Affe und andere Offenbarungen“
Titel: Geliebter Affe und andere Offenbarungen
Autor: Yohihiro Tatsumi
Verlag: Carlsen Comics. 319 Seiten (s/w), Softcover. 19,90 Euro.
„Unsere Alten haben uns gelehrt, dass Comics komisch sein müssen. Der Leser soll zum Lachen gebracht werden. Wir wollen dies nicht mehr tun.“ Eine so selbstbewusste, wie zutreffende Aussage des Zeichners Yoshiro Tatsumi, der sich gegen die Dominanz des Witzigen im Manga stellte und zum Wegbereiter für ernste, realistische Comics in Japan wurde. Der Band „Geliebter Affe und andere Offenbarungen“, der 13 Kurzgeschichten, die zwischen 1972 und 1998 entstanden, versammelt, beweist, wie ernst es Tatsumi mit seinem Motto war: Zu lachen gibt es hier wirklich gar nichts. Stattdessen richtet der Japaner sein Augenmerk auf den Rand der Gesellschaft, erzählt vom Versagen und Existenznöten, von beruflichen und privaten Krisen. Leider sind die Erzählungen dabei recht eintönig kompiliert, der Protagonist scheint fast durchweg dieselbe Figur zu sein, nur mit jeweils unterschiedlichem Alter und äußerer Erscheinung versehen. Und Frauen erscheinen entweder als Prostituierte oder engelsgleiches Objekt der Begierde – realistisch ist das nicht gerade. Das größte Problem ist allerdings die Narration: Bis auf Ausnahmen (etwa das gelungene Finale „Die große Entdeckung“) plätschert die Handlung der Geschichten bis zu einem anscheinenden Wendepunkt dahin, verschenkt diesen dann aber und plätschert noch ein paar Seiten weiter, bis sie dann plötzlich ohne erkennbaren Grund plötzlich vorbei ist. Bei allem Respekt, Yoshihiro – da können wir auch gleich Wolfgang Borchert lesen. (4)
„Alice in Sussex“
Titel: Alice in Sussex
Autor: Nicolas Mahler
Verlag: Suhrkamp. 143 Seiten (dreifarbig), Softcover. 18,99 Euro.
Mit Adaptionen von Lewis Carolls „Alice im Wunderland“ ist man in den letzten Jahren ja geradezu zugeschmissen wurden, vom Videospiel über Theaterstücke mit Musik von Tom Waits bis hin zu Tim Burtons irre erfolgreicher aber ebenso überflüssiger 3D-Transferenz. Und natürlich mit jeder Menge Comics zum Thema, das uns allen wenn wir mal ehrlich sind längst zum Hals raushängt. Der Wiener Cartoonist Mahler hat mit „Alice in Sussex“ zumindest einen neuen Zugang gefunden, indem er Motive Carrolls mit dem weit weniger bekannten „Frankenstein in Sussex“ von H.C. Artmann zu höherem Unsinn vermischt. Geschichte und Figuren unterscheiden sich dabei gar nicht großartig von vorangegangenen Versionen, erscheinen in Mahlers minimalistischem Zeichenstil aber schön absurd. Und wenn der Autor im Finale dann noch seine Interpretation von Frau Holle ins Spiel bringt, die in einem Atom-U-Boot als Deus-Ex-Machina für die Auflösung der Handlung sorgt, kann man sich ein Schmunzeln kaum mehr verkneifen. Dennoch bleibt die Frage, ob es Mahler nicht besser zu Gesicht gestanden hätte, ein weniger ausgelutschtes Sujet zu bemühen. „Alice in Sussex“ vermag durchaus zu amüsieren, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dringend mal Zeit wird, sich anderen Vorlagen zuzuwenden. (6)
Short Cuts
Wiederveröffentlichung des Monats: Die Fälle des tollpatschigen Detektivs „Jackie Kottwitz“ erschienen hierzulande erstmals Anfang der Neunziger und werden nun in einer schönen Gesamtausgabe neu aufgelegt. Band 1 enthält die ersten drei Fälle, gezeichnet von Alan Dodier, geschrieben unter anderem von Regis Loisel („Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“) stammen. Weiter so. (Finix Comics, 160 Seiten (farbig), 29,90)
Canardo – Schneeschnackseln: Auf 21 Alben hat es der belgischen Dauerbrenner von Sokal und seinem Faktotum Pascal Regnauld mittlerweile gebracht. Diesmal soll der abgewrackte Erpel Canardo mit Hilfe einer Prostituierten kompromittierende Aufnahmen eines hochrangigen Politikers anfertigen. Ein Plan der auf tragisch-groteske Weise scheitert und eine aufsteigende Formkurve der zuletzt schwächelnden Serie erkennen lässt. (Schreiber&Leser, 48 Seiten (farbig), 12,95 Euro)
Coelacanth Bd.2: Hisano und Yukinari sind gebrannte Kinder aus zerütteten Familien, die von zwei Mordfällen schicksalhaft zusammengeführt werden. Auch der zweite Teil von Kayoko Shimotsukis intensivem Manga lässt lange offen, ob man eine Liebesgeschichte und einen tragischen Psychothriller liest, findet aber eine gelungene Auflösung. (Manganet, 189 Seiten (s/w), 6,50 Euro)
Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.