Ende letzten Jahres hat Netflix mit Black Mirror: Bandersnatch, einer Filmauskopplung der besonders bei jungen Leuten ungeheuer populären Anthologie-Serie Black Mirror, für Furore gesorgt. Das Besondere nämlich: Bandersnatch ist ein sogenannter interaktiver Film. Als solcher verlangt er während des Anschauens vom Publikum aktive Entscheidungen, so als würden sie ein Videospiel spielen. Diese Interaktivität ist verbunden mit dem verlockenden Versprechen, eine einzigartige, persönliche Geschichte zu erleben. Bandersnatch stieß im Netz auf gemischte Gefühle, viele lobten Netflix‘ innovativen Vorstoß, andere konnten der plötzlich von ihnen eingeforderten Aktivität nur wenig abgewinnen. Dass gerade der Serienkosmos von Black Mirror den ersten ernsthaften interaktiven Sprössling der populären Streaming-Plattform hervorgebracht hat, erscheint naheliegend: Immerhin verhandelt Showrunner Charlie Brooker in den einzelnen Episoden seiner Serie fortlaufend die Abhängigkeitsstrukturen zwischen technologischen Errungenschaften und ihren Nutzer*innen.
Mittlerweile hat Netflix angekündigt, in Reaktion auf den „großen Erfolg“ von Bandersnatch (was seine genauen Einschaltquoten angeht, hält sich Netflix bekanntlich sehr bedeckt) deutlich mehr Geld in zukunftsträchtige interaktive Formate zu investieren. Dass Netflix-Programmchef Ted Sarandos sich auf dem unlängst stattgefundenen Fernsehfestival SeriesMania in Lille ausgerechnet von Brooker zur Zukunft der Branche interviewen ließ, ist da nur noch der Wink mit dem Zaunpfahl. Die Stoßrichtung ist klar: Netflix sieht in interaktiven Formaten die Zukunft des Fernsehens oder gibt zumindest vor, dies zu tun. Aber müssen wir uns wirklich darauf einstellen, in Zukunft nur noch interaktive Serien streamen zu können?
Zunächst einmal ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass das Prinzip der interaktiven Filme als solches kein Neues ist. Adventure-Games leben schon seit vielen Jahren von Entscheidungssituationen und verzweigenden Narrationen, darunter etwa die populären Telltale-Spieleadaptionen großer Stoffe wie The Walking Dead und Game of Thrones. Gerade den Spielen von Telltale wurde dabei immer wieder vorgeworfen, zu wenig Spiel und zu viel Film zu sein. In den Achtzigern haben sich sogenannte Full-Motion-Video-Spiele (kurz: FMVs) bereits am Projekt des interaktiven Films versucht – mit bescheidenem Erfolg. Und in letzter Konsequenz lässt sich das Prinzip der nonlinearen Erzählung schon auf das Jahrtausende alte chinesische I Ging zurückführen. Das Neue an Bandersnatch ist, aus dieser Perspektive betrachtet, höchstens dessen Production Value und die Ausgereiftheit seiner Software-Architektur.
Die Faszination, die entsprechendes Storytelling auf Autor*innen und Rezipient*innen ausübt, liegt nichtsdestotrotz auf der Hand: Sie verheißt die Erlösung vom Dogma der Linearität, das jedem erzählerischen Schaffensprozess zugrunde liegt. Sind die Wörter erst einmal angeordnet und die Einstellungen in die richtige Abfolge gebracht, wird die Geschichte zu einem statischen Gebilde. Wenn jetzt aber nachträglich in den Verlauf der Erzählung eingegriffen werden kann, wird daraus etwas Neues, etwas ein Stück weit Einzigartiges. Und die veränderbare Geschichte erzielt andere Wirkungen beim Lesen/Hören/Sehen/Spielen. In Videospielen hat das etwa den ganz simplen Effekt, dass die Distanz zwischen Werk und Publikum schwindet. Wenn das Ableben geliebter Figuren in der eigenen Verantwortung liegt, geht deren Fehlen noch viel unmittelbarer ans Herz.
Der Mehrwert einer Technologie steht und fällt bekanntlich damit, wie gut sie vom Publikum angenommen wird. Virtual Reality, der aus dem Silicon Valley eine große Zukunft beschworen wird, fristet auf den hiesigen Märkten nach wie vor ein Nischendasein, da VR-Headsets bisher nicht erschwinglich sind und noch immer als zu großer Exot anmuten. Ähnlich dürfte es wohl den interaktiven Streaming-Inhalten ergehen. Trotz des Erfolgs von Bandersnatch dürfte jedem in der Chefetage von Netflix klar geworden sein, dass interaktive Formate der aktuellen Mentalität des Publikums nur bedingt entgegenkommen. Der so prominenten Kulturtechnik des Binge Watching wird durch sie ein Riegel vorgeschoben. Und ein nicht unerheblicher Teil der Nutzer*innen von Streaming-Diensten wie Netflix und Amazon Video nutzen diese Dienste nun mal zum Abschalten nach einem harten Arbeits- oder Unitag. Anspruchsvolle Unterhaltung, bei der man auch noch selbst aktiv werden muss, ist da nicht immer das Mittel der Wahl.
Dass wir uns dennoch in naher Zukunft auf regelmäßige interaktive Neuerscheinungen auf den Streaming-Portalen unserer Wahl einstellen sollten, hat einen einfachen Grund: Sie binden die Kund*innen effektiv an die eigene Marke. Interaktive Filme wie Bandersnatch lassen sich quasi nicht raubkopieren, ohne ihr zugrundeliegendes Strukturprinzip auszuhebeln. Jetzt, wo sich die Konkurrenz im Streaming-Sektor immer stärker verschärft und die einzelnen Anbieter mit allen Mitteln um die Treue ihrer Nutzer*innen buhlen müssen, scheint der interaktive Film der gewünschte Silberstreif am Horizont zu sein. Fürs Erste zumindest.
Frederik ist 25 Jahre alt und studiert an der CAU Gegenwartsliteratur und Medienwissenschaft im Master. Er ist seit April 2019 Teil der Redaktion des Albrechts.