Missbrauch hat viele Facetten: sexuell, physisch, psychisch. Manche Menschen schaffen es, sich zu wehren, andere sind ihrem*ihrer Peiniger*in hilflos ausgeliefert. Doch was tun, um sich zu wehren? Und was, wenn sich noch weitere Menschen in den Fängen einer toxischen Person befinden? Das wirkliche Leben beschreibt, wie die Protagonistin, die namenlos bleibt, sich gegen ihren cholerischen Vater aufbäumt und versucht, sich ein Stück Menschlichkeit zu bewahren – und diese ihrem kleinen Bruder Gilles zurückzugeben.  

Es ist ein Sommer wie jeder andere in der etwas heruntergekommenen Siedlung am Galgenwäldchen. Die 10-jährige Protagonistin und ihr 6-jähriger Bruder spielen jeden Tag im Wald, auf dem Schrottplatz oder besuchen eine alte Freundin. Sie leben in ihrer eigenen Welt, um die Zustände, die zuhause herrschen, auszublenden. Denn ihr Vater ist alles andere als ein liebevoller Mann: Sein Hobby ist das Jagen, es gibt einen ganzen Raum voll mit seinen Trophäen, und wenn ihm langweilig wird, schikaniert er seine Frau. Doch bei Schikane bleibt es oftmals nicht und schon bald müssen das Mädchen und sein Bruder mitansehen, wie ihre Mutter sich immer mehr zurückzieht und ihren Ziegen im Garten mehr Liebe zukommen lässt als ihren Kindern.  

Eines Abends kommt wie jeden Abend der Eiswagen vorbei, den die Kinder der Siedlung sehnsüchtig erwarten. Unerwarteterweise geschieht jedoch ein tragisches Unglück, direkt vor den Augen von Gilles und seiner großen Schwester. Die Kinder sind fortan gezeichnet, ohne Aussicht auf Heilung, da ihre heimische Umgebung keinen Tropfen Liebe vergeudet.   

In den kommenden Jahren wird die Protagonistin erwachsen, doch verliert mehr und mehr ihren Bruder, der sich in Einsamkeit und Bestialität verkriecht. Alle Versuche, Gilles wieder ‚normal’ zu machen, wie die Protagonistin es selbst ausdrückt, scheitern. Als das heranwachsende Mädchen eines Tages beschließt, ihren eigenen Weg zu gehen, ungeachtet des Willens ihres Vaters, horcht dieser auf und beginnt, seine eigene Tochter zu malträtieren und wie ein Tier auf einer Jagd zu behandeln.  

Das wirkliche Leben ist erschreckend. Es ist roh, es ist brutal. Es gibt aber auch Hoffnung. Hoffnung darauf, dass alles anders werden kann. Der Schreibstil ist symbolhaft und bildreich, einige Szenen sind nichts für Zartbesaitete. Adeline Dieudonné beschreibt, wie zwei Kinder in einem lieblosen Haushalt aufwachsen, und wie verschieden sie sich entwickeln, obwohl sie das Gleiche erlebt haben. Die Protagonistin liebt ihren Bruder über alle Maße, und es ist herzerwärmend sowie zerreißend, ihre Bemühungen um ihn mitzuerleben. Nach und nach gelingt es ihr jedoch, sich ihrem Vater zu widersetzen und einen Weg einzuschlagen, den sie sich selbst niemals zugetraut hätte. Es ist erstaunlich, wie gut ihr die Wandlung gelingt, hatte sie sich doch fast aufgegeben. Sie beginnt, ihr Potential auszuschöpfen in der Hoffnung, diesem Leben zu entkommen.   

Beim Lesen des Romans bin ich oftmals wütend geworden, fassungslos, verängstigt. Die Umstände, die in Das wirkliche Leben beschrieben werden, gehören in manchen Familien zur Tagesordnung. Die Brutalität, die dieses Buch mal mehr, mal weniger offensichtlich an den Tag legt, sorgt für ein konstantes Unwohlsein während des Lesens. Nichtsdestotrotz hatte ich hier einen wahren Pageturner vor mir. Zurecht hat Das wirkliche Leben 14 Literaturpreise erhalten.   

Der Roman von Adeline Dieudonné ist in Deutschland beim dtv Verlag erschienen.  

Autor*in

Ann-Kathrin studiert Deutsch und Anglistik im Master an der CAU. Da sie nicht auf Lehramt studiert, hielt sie es für klug, im Oktober 2017 Teil der ALBRECHT Redaktion zu werden. Von Februar 2018 bis Februar 2019 war sie Leiterin des Ressorts Gesellschaft und übernahm dann bis Januar 2020 den Posten der stellvertretenden Chefredakteurin.

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