Bibliotheken sind eine elementare Institution des universitären Alltags. In der Bibliothek sammelt sich das Wissen ungezählter Denker:innen – und die Studierenden folgen dem Ruf. Zwischen turmhohen Bücherregalen und unter leise vor sich hin summenden Tageslichtlampen wurde nicht nur die ein oder andere Hausarbeit abgefasst, sondern sind auch schon zahlreiche Freundschaften entstanden. Doch das ist längst nicht alles, was eine Bibliothek kann. Oft vergessen unter jungen Leuten sind die Geschwister der „Unibibs“, die städtischen Büchereien. DER ALBRECHT wollte wissen, wie es den Büchereien unter Pandemiebedingungen ergeht und wie sich die Bücherhallen in Zeiten von Netflix, Audible und Co. behaupten. Deshalb folgten wir der Einladung der Stadtbücherei Kiel in die Räumlichkeiten der Zentralbücherei, im Herzen von Kiel gelegen an der Andreas-Gayk-Straße.
Ins Obergeschoss des Neuen Rathauses, zwischen Stadtgalerie, KulturForum und Statt-Café, schmiegt sich die Kieler Zentralbücherei. Hier empfangen uns Kathrin Eichberg und Lea-Marie Waschk von der Stadtbücherei Kiel. Mit ihren glatten, dunkelroten Haaren und schwarzen Jacken geben die Kolleginnen ein uniformes Bild ab. Und doch sind sie ein ungleiches Paar: Kathrin Eichberg hat eine klassische Bibliothekar:innenausbildung durchlaufen und ist seit vielen Jahren im Geschäft, Lea-Marie Waschk ist über das Trainee-Programm „Stadt*TALENTE“ der Stadt Kiel zur Stadtbücherei gekommen. Über die frische Perspektive und den fachfremden Hintergrund freue das Team sich ungemein, betont Kathrin Eichberg. Neue Impulse zu setzen, scheint der Stadtbücherei wichtig zu sein.
Das Erste, was noch vor dem Eintreten in den Blick fällt, ist der kastenförmige, metallisch schimmernde Rückgabeautomat, der zur Hälfte unter einer blauen Plane versinkt. „Nutzung vorläufig nicht möglich“, wird uns gesagt. Der eingetütete Automat ist ein Sinnbild für das Tagesgeschehen der Zentralbücherei unter Pandemiebedingungen: Aus Hygieneschutzgründen wird mittlerweile wieder ein Großteil der Ausleihen persönlich am Schalter verbucht. Schuld sind die Touchscreens der Selbstverbuchungsgeräte, die zum Austausch von Keimen einladen. Immerhin in diesem Punkt bringt Corona also einmal ein Mehr an Miteinander. Für die Mitarbeiter:innen ist das nur ein geringer Trost. Die aktuell ausgesetzte Selbstverbuchung sei „super für den Rücken“. Denn dort wurde die Last noch auf jeder Schulter einzeln verteilt.
Am Zahn der Zeit
Unsere beiden Ansprechpartnerinnen nehmen uns mit in die Gefilde der Zentralbücherei: Hinter dem Eingang spannt sich ein Reich der Farben und viereckigen Formen auf, menschengroße Regale zu allen erdenklichen Themenbereichen, von Sachliteratur bis hin zu deutscher und fremdsprachiger Unterhaltung. Zielstrebig führt der Gang zur anderen Seite der Halle hinüber, wo aus Richtung Förde bläuliches Licht einfällt. Direkt im Eingangsbereich warten Gestelle mit CDs, DVDs und Blu-rays aktueller TV-, Film- und Videospielproduktionen – und räumen so direkt mit dem Vorurteil auf, Büchereien könnten nur Bücher. Ganz im Gegenteil: Gerade die Games-Sammlung ist auf dem neuesten Stand und kann bereits mit den ersten Titeln für die neuen PlayStation-5- und Xbox-Series-X-Konsolen aufwarten.
„Uns geht es darum, die Medien in ihrer Zeit abzubilden“, erläutert Kathrin Eichberg die Arbeit als Bibliothekarin. So erklärt sich, dass in den Regalen Bestseller-Romane neben Kinofilmen stehen, Brettspiele neben Karten. Selbst neuartige Multimediaformate wie Tonieboxen oder TipToi-Bücher – aktuell im Trend bei Heranwachsenden – finden sich im Repertoire. Statt Titel zu archivieren wie Universitätsbibliotheken es tun, wird hier ständig ausgetauscht, um den Bedürfnissen der Benutzer:innen zu entsprechen.
Ausgeliehen wird meist saisonal. Im Frühling und Sommer ist die Abteilung für Landwirtschaft und Garten gut besucht; wenn die Steuererklärung ansteht, wandern die meisten Steuerratgeber über die Theke. Aktuell schwer haben es Reiseführer, erzählt Kathrin Eichberg schmunzelnd, ganz im Gegensatz zu den Wander- und Fahrradkarten für das Kieler Umland. Genau in solchen Erkenntnissen liegt für sie die Faszination des Berufs: unmittelbar nachvollziehen zu können, was die Menschen bewegt.
Die Bibliothek der Dinge
In der heutigen Zeit greifen immer mehr Menschen auf die Dienste von Streaming-Anbietern wie Netflix oder Spotify zurück. Konkurrenz zu deren Angeboten sehen die Bibliotheksmitarbeiterinnen aber keine. Die Stadtbücherei Kiel ist eine Universalbibliothek und besticht gerade durch ihre Angebotsvielfalt. Gleichzeitig sucht man sich auch eigene Nischen: Mit der Online-Videothek filmfriend etwa, die den Blockbuster-Programmen von Netflix und Amazon Prime kleinere Arthouse-Produktionen entgegenhält.
Büchereien denken heute sogar schon einen Schritt weiter, wird uns erklärt – in Zukunft verstehen sie sich als „Bibliothek der Dinge“. Dann soll es auch mal möglich sein, eine Bohrmaschine auszuleihen; eben alles, was für einen aktuellen Anlass genutzt, aber nicht selbst besessen werden muss. Energiesparsteckdosen zur Messung des eigenen Stromverbrauchs gibt es schon jetzt zur Ausliehe. Denn die Kieler Stadtbibliothek versteht sich auch als eine nachhaltige Institution. Sie bietet einen offenen Raum für alle, in dem niedrigschwellig Wissen zur Verfügung gestellt wird und Ressourcen geteilt werden. Beim Erwerb neuer Produkte wird deshalb auch darauf geachtet, lokale Buchhandlungen und andere Dienstleister zu unterstützen.
Für Studierende kostenlos
Während wir durch die Bücherei geführt werden, erklären uns die beiden, wie die Ausleihe vonstattengeht. Nach der Anmeldung und Ausstellung des eigenen Bibliotheksausweises ist es möglich, bis zu 60 verschiedene Medien gleichzeitig auszuleihen, zwischen zehn und 20 von jeder Sorte. Grundsätzlich wird zwischen Langzeit- und Kurzzeitmedien unterschieden: Während Bücher, Hörbücher und Karten für vier Wochen ausgeliehen werden können, haben DVDs, CDs, Games und Zeitschriften Leihfristen von zwei Wochen. Anders als für normale Benutzer:innen ist für Studierende die Anmeldung in der Stadtbücherei komplett kostenlos. Alle Dienste können also genutzt werden, ohne einen Cent abzudrücken – vorausgesetzt, es wird sich an die Leihfristen gehalten.
Gerade für junge Menschen interessant ist die „Onleihe“, gewissermaßen das digitale Standbein der Stadtbücherei. Der Online-Katalog umfasst mittlerweile fast 100.000 Titel und deckt von eBooks über eLearning-Angebote und Audio- und Video-Formate eine große Bandbreite an digitalen Materialien an. Großes Plus des digitalen Angebots sind die flexibleren Leihfristen, die Möglichkeit zu kostenlosen Vormerkungen und das Fehlen von Versäumnisgebühren. Andersherum ist die ‚analoge Bücherei‘ aber auch schneller bestückt mit aktuellen Neuheiten.
Zwischen Fähren und Löwinnen
Wir sind mittlerweile am anderen Ende der Bücherei angekommen, der mit einem Ausblick direkt auf die Förde auftrumpft. Aktuell liegt die Stena Line vor Anker. Wer zur rechten Zeit vorbeikommt, kann den Schiffen beim Ablegen zusehen, sagt Lea-Marie Waschk. Einen weniger schönen Anblick bietet der Lesesaal, eigentlich Begegnungsort für Bibliotheksbesucher:innen und Deutschlernende, der jetzt als abgeschotteter Kreis aus Stühlen und Bänken an die geltenden Beschränkungen erinnert. Das Selbstverständnis der Büchereien als „Dritter Ort“, also als Treffpunkt und Forum neben dem eigenen Zuhause und dem Arbeitsplatz – es leidet unter der Corona-Pandemie.
Ganz in der Nähe des Lesesaals kommt es zu einer unwahrscheinlichen Begegnung: Direkt vor der Zeitschriftenwand hat eine Löwendame Aufstellung genommen, aus Holz wohlgemerkt, und von der Kunstsammlung der Landeshauptstadt Kiel gestiftet. Auf unsere Nachfrage hin, seit wann diese besonders bei den jüngeren Besucher:innen beliebte Statue schon an Ort und Stelle steht, kann uns nicht so recht eine Antwort gegeben werden. „Auf jeden Fall von vor meiner Zeit“, erklärt Kathrin Eichberg, die immerhin schon seit knapp zehn Jahren für die Stadtbücherei arbeitet. Generell ist vieles über die Jahre organisch gewachsen in den Räumen der Zentralbücherei, von der Anordnung der Bücherregale bis zur Ausstattung der Selbstverbuchungsanlagen, die eher altmodische Magnetbandkarten mit moderner Scantechnologie verbindet. So ergibt sich der eigentümliche Flair des Ortes: „Von allem ein bisschen“, ist so etwas wie das inoffizielle Motto der Bücherei.
Auf der Suche nach mehr Sichtbarkeit
Zum Abschluss unseres Rundgangs erwartet uns die von Künstlerin Katharina Kierzek gestaltete Jugendecke – ein echter Hingucker, in der es vor kleinen Äuglein, Tieren und Fantasiegestalten nur so wimmelt. Normalerweise würden hier die jüngeren Besucher:innen auf ihre Kosten kommen und sich an einer der Spielstationen auslassen – wohlgemerkt nur an Nachmittagen, wenn die Schule bereits aus ist.
Wie viel zu Corona-Zeiten in der Bücherei los ist, davon können wir uns schließlich selbst ein Bild machen. Als um 14 Uhr die Besucherzeit startet, belebt sich die Zentralbücherei im Verlauf von Minuten. Es sind besonders junge Familien die hereinströmen, und nach kurzer Zeit hat sich bereits eine Schlange vor den Service-Theken gebildet. Jetzt kommen etwa 500 Besucher:innen am Tag, erklärt Lea-Marie Waschk, vor Corona war es etwa das Dreifache. Keine allzu schlechte Zahl. Aber natürlich ist immer noch Luft nach oben. Das Problem: Bei vielen kommt gar nicht erst an, was die Bücherei alles zu bieten hat – und dass ihre Dienste für Kinder und Studierende kostenlos sind.
Bleibt zu hoffen, dass unser Besuch daran etwas ändern kann.
Frederik ist 25 Jahre alt und studiert an der CAU Gegenwartsliteratur und Medienwissenschaft im Master. Er ist seit April 2019 Teil der Redaktion des Albrechts.