Kindheitsheldinnen: Hanni und Nanni
Schloss Einstein, Burg Schreckenstein oder Hogwarts: Hauptsache Internat. Mein wahrscheinlich größter Kindheitstraum war es, dass meine Eltern sich dafür entscheiden würden, mich von Zuhause wegzuschicken und ich meine Tage in einem mehr oder weniger magischen Gemäuer verbringen könnte. Rückblickend verstehe ich ihre vehemente Ablehnung dieser Idee. Nicht nur sind Internate teurer als es sich Achtjährige vorstellen können, sie sind zudem meist nicht in Reichweite vom Elternhaus; ein Gedanke, mit dem sich viele Erziehungsberechtigte nur schwer anfreunden können.
Wie alles begann
Realistisch betrachtet ist meine Mutter jedoch selbst schuld an meiner jahrelangen Obsession mit dem Internatsleben. Schließlich war sie es, die mir im zarten Alter von sechs Jahren ihre Hanni und Nanni Hörspiel-Plattenkollektion zugänglich gemacht hatte. Die Platten aus den 70er Jahren waren und sind bis heute unter ihren liebsten Besitztümern. Heute sehe ich, wie viel Vertrauen sie in mich gesetzt hatte, mir die doch recht empfindlichen Scheiben zu geben.
Damals lagen meine Sorgen definitiv anderswo und es war somit schnell klar, welche Hörspielfolgen meine liebsten Abenteuer beinhalteten: Es waren die mit den meisten Kratzern und den kaputten Schutzhüllen. Besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde dabei die sechste Folge, Hanni und Nanni im Geisterschloss. Wer sich diese Folge heute von mir ausleihen möchte, muss sich mit lediglich der B-Seite zufriedengeben.
Alternativ sind inzwischen auch alle Folgen auf Spotify zu finden. Das entdeckte ich vor einigen Monaten, als mich spontan die Nostalgie packte. Zu meiner Überraschung stellte ich dann auch noch fest, dass es scheinbar mehr als nur die mir bekannten 15 Folgen aus meiner Kindheit gab. Endete die Serie nicht damit, dass die Zwillinge und ihre Freundinnen nach ihrem Schulabschluss ein Praktikum in einem Kinderheim machten? Sind sie etwa im Anschluss wieder zurück an das Internat Lindenhof gegangen? Warum können die Originale nie in Ruhe gelassen werden und muss es zu allem immer ein Sequel geben?
Wer hätt’s gedacht?!
Nach kurzer Recherche konnte ich mir nicht nur die Frage beantworten, was in diesen neuen Folgen passierte, sondern auch alles andere in Frage stellen, was ich bisher glaubte, über meine Lieblingskinderbücher und -hörspielreihe zu wissen. Bei der Serie, so wie ich sie kannte, handelte es sich scheinbar nicht um die Originalreihe! Rein logisch war mir bewusst, dass die Autorin Enid Blyton sowohl britisch als auch längst nicht mehr am Leben war, als die deutsche Version der Bücher veröffentlicht wurde.
Natürlich würden die Abenteuer der Zwillinge in ihrer Originalsprache nicht in einem Schloss mit dem sehr deutsch klingenden Namen Lindenhof spielen. Was mir jedoch komplett neu war, war die Tatsache, dass Blyton selbst lediglich sechs Bände für die Buchreihe geschrieben hatte. Jeder weitere Band war eine Auftragsarbeit des deutschen Verlags, geschrieben 30 bis 40 Jahre nachdem die Originalreihe endete und nach dem Ableben der Autorin.
Zudem durchliefen die Bücher bei der Übersetzung einige Veränderungen. Abgesehen vom Eindeutschen der Namen von Orten und Personenwurde die Zeit 20 Jahre in die Zukunft, von den 40er Jahren in die 60er, gelegt. Grammophone wurden zu Plattenspielern, Poststellen zu Telefonen und Jazzmusik zu Schlager. Aus dem Schulsport Lacrosse wurde Handball, aus dem anglikanischen Mädcheninternat St. Clare’s im englischen Cornwall wurde der deutsche Lindenhof und aus Pat und Isabel wurden Hanni und Nanni.
… und trotzdem!
Zugegebenermaßen irrational, diese neuen Informationen fühlen sich für mich nach einem Verrat an meiner Kindheit an. Etwas, das ich über Jahre für wahr gehalten habe, stellte sich schließlich als falsch heraus und das ist nie leicht zu begreifen. Doch Kleinigkeiten wie diese sollten mir wirklich nicht so nahe gehen, schließlich bin ich ein erwachsener Mensch und sollte somit durchaus fähig sein, mich auf das Positive zu konzentrieren. Immerhin verbinden Hanni und Nanni mich seit über 20 Jahren mit meiner Mutter und ihrer eigenen Kindheit. Sie waren über Jahre der Anlass für Tagträume vom wilden Internatsleben und haben mir indirekt beigebracht, wie ich Schallplatten nicht behandeln sollte.
Janne ist seit 2019 Teil der Albrecht-Redaktion, zunächst als Leitung des Kulturresorts und Social Media, dann bis Anfang 2024 für ein Jahr als stellvertretende Chefredaktion.