„Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar. Um ehrlich zu sein, fand ich sie bei unserer ersten Begegnung nicht einmal attraktiv. Mittelgroß, ein Topfschnitt, irgendwo zwischen kurz und lang, gelbliche unreine Haut, Schlupflider und dominante Wangenknochen. So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten“. So beschreibt Chong seine Ehefrau Yong-Hye. Die beiden führen eine mehr oder weniger gute Ehe mit mehr oder weniger viel Liebe. Normal eben.

Bis Yong-Hye eines Tages beschließt, kein Fleisch mehr zu essen und alle tierischen Produkte aus ihrem Haushalt zu verbannen. Eine unvorstellbare Tat und Rebellion in dem traditionsreichen und von Konformität geprägten Südkorea. Und unter keinen Umständen lässt sie sich umstimmen, weder von ihrem Ehemann noch von ihren Eltern. So eskaliert die Situation schließlich: Die ganze Familie ist bei der Schwester In-Hye und deren Ehemann zu Besuch, mit der Absicht, Yong-Hye zum Essen zu bewegen. Als der Vater ihr Gesicht packt und ihr ein Stück Fleisch ins Gesicht presst, springt sie auf und schneidet sich vor der versammelten Verwandtschaft die Pulsadern auf.

Die Autorin Han Kang erzählt in drei Akten die Geschichte einer verzweifelten Frau, die auf der Suche nach etwas ist. Ihr Erzählstil ist leise und nüchtern, aber gerade dadurch so ausdrucksstark. So erfahren wir nie so wirklich, wie es Yong-Hye während der ganzen Geschichte eigentlich geht. Durch die drei Akte hindurch werden wir Zeugen ihrer Veränderung, im ersten Akt erzählt der Ehemann, im zweiten der Schwager und im letzten die Schwester. Gerade das macht es so spannend, weil wir Yong-Hye nie direkt erreichen, sondern immer nur gefiltert durch andere, geprägt von deren eigenen Meinungen und deren Problemen. So erfahren wir von dem Schwager, dass er sich in Yong-Hye verliebt hat, ihren Geisteszustand ausnutzt und es letztendlich zum Geschlechtsakt kommt. Oder von dem schwierigen Leben der Schwester, die für ihren kranken Sohn sorgt, nach der Trennung ohne ihren Ehemann, und sich große Sorgen um ihre Schwester macht. Yong-Hye ist mittlerweile in einem psychiatrischen Krankenhaus. Was rückblickend so harmlos angefangen hat, artete in spontane Entkleidungsaktionen in der Öffentlichkeit und das Einstellen des Essens aus. Sie träumt davon, eine Pflanze zu werden und sich nur von Licht ernähren zu können.

Han Kang liefert uns nur seltene Einblicke in Yong-Hyes Gedankenwelt. Aber das Motiv für ihr Verhalten erfahren wir dennoch: „Ich hatte einen Traum“. Sie träumt davon, wie sie rohes Fleisch isst und blutverschmiert ist. Später, wie Blumen aus ihrem Schoß sprießen und sie ein Baum wird. Als ihr Schwager, ein Künstler, ihren nackten Körper für ein Projekt mit Blumen bemalt, wäscht sie diese nicht mehr ab, und bittet ihn, sie immer wieder nachzumalen, sollten sie verblassen.

So abstrakt die Vorstellung, sich nur von Licht ernähren zu können auch scheinen mag, fiktiv ist sie nicht. Das Konzept der Lichtnahrung, auch Breatharianismus genannt, hat weltweit einigen Zuspruch gefunden. Die Anhänger dieser esoterischen Methode glauben, dass es möglich sei, die für das Leben notwendige Energie aus feinstofflicher Energie zu ziehen, also Licht. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei dieser umstrittenen Praktik, meist durch Verhungern.

Han Kang wurde 1970 in Korea geboren und erhielt schon für ihre frühen Werke Auszeichnungen in ihrem Heimatland. Der große internationale Durchbruch kam dann aber 2016, als sie für Die Vegetarierin den Man Booker International Prize gewann. Das Buch war neun Jahre zuvor schon in Korea erschienen.

Der Roman bleibt im Gedächtnis und das bei gerade einmal 190 Seiten. Han Kang schafft es, in dieses Buch die ganz großen Fragen und Themen zu packen. Einerseits kommt der Wunsch auf, Yong-Hye vor dem Verhungern zu retten, sie aus ihrer Traumwelt zu entziehen, andererseits hat sie ihren eigenen freien Willen. Darf sich die normgesteuerte Gesellschaft darüber stellen und sie als verrückt erklären? Sie schafft es zu rebellieren, ohne tatsächlich zu rebellieren. Es wird deutlich, dass sie eigentlich nur den Wunsch hegt, in Ruhe gelassen zu werden. Als ihre Schwester sie in der psychiatrischen Anstalt besucht und zum wiederholten Male ihre Angst äußert, dass Yong-Hye zu sterben droht, entgegnet diese bloß ganz trocken und ausdruckslos: „Ja und? Ist es denn verboten zu sterben?“.

Han Kang malt Bilder mit ihrer nüchternen Sprache, Bilder der Graumsamkeit, des Blutes, der Verzweiflung, und all das in einem doch scheinbar geregelten Alltagsleben. Am Ende entsteht die Frage, wer denn jetzt wirklich verrückt ist: Yong-Hye, die ihr ganzes Leben lang von Männern unterdrückt wurde, oder ihr Umfeld, das sich ja selber nicht mal zu verstehen scheint.

Autor*in

Nadine ist 22 Jahre alt und studiert Germanistik und Medienwissenschaft im Master an der CAU. Seit Oktober 2018 ist sie Teil der Albrecht-Redaktion und hat vom Sommersemester 2019 bis Sommersemester 2020 das Kulturressort geleitet. Nun kümmert sie sich um die Social Media-Präsenz, schreibt aber auch noch fleißig Artikel.

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