Ein Gastartikel von Anna Siebert
Über 400 Filme, fast 30 Kinos, unzählige Besucher aus aller Welt und mehr als 1 000 akkreditierte Studierende mit orangefarbenen Wichtigbändern um den Hals: Die Berlinale. Anna Siebert hat für euch hinter die Kulissen geblickt.
Harald Martenstein guckt gebannt auf die Leinwand. Ich gucke gebannt auf Herrn Martensteins Hinterkopf. Die 1 000 Plätze des Hauses der Berliner Festspiele sind mehr als besetzt, der Dresscode changiert zwischen Trainingsanzug und klassischer Abendgarderobe, von draußen weht ein leichter Grasgeruch in den Saal. Das ist also diese Berlinale. Auch wenn Rücken und Füße nach mehreren Festivaltagen in Endlosschlangen und im Kinodunkel schmerzen und das Schlafpensum auf ein Minimum reduziert ist, lohnt sich in diesem Moment alles. Auf der Leinwand prügeln sich ein paar Neuköllner Jungs; neben Frederick Lau (Victoria, Neue Vahr Süd) haben sich Kiezgrößen wie Rapper Massiv oder Veysel in die Mafiaserie 4 Blocks gespielt und an diesem Abend zu ihrer Premiere eingefunden. Jeder stechende Patenblick erntet Probz vom Publikum, Herr Martenstein zeigt sich angetan, ich bin es auch.
Die Berlinale ist das größte Publikumsfilmfestival weltweit. Signalrote Bärenstatuen spicken das Berliner Stadtbild, Menschen schmücken sich mit Festivalmerchandise und wahre Fans verbringen die Nächte vor den Ticketschaltern. „Das nervt“, so Kamerassistent Hagen Ulbrich, der sich durch seine Mitarbeit an 4 Blocks nicht ganz dem Trubel entziehen kann. Bei einem halben Mozzarellapanini führt Hagen aus, dass derartig pompöse Veranstaltungen nur nach sich ziehen, dass sich die Filmindustrie immer ernster nimmt, und das nicht primär durch sehenswerte Ergebnisse.
Die Berlinale-Akkreditierung ist für Studierende der Neuen Deutschen Literatur und Medienwissenschaft einmalig möglich. Interessierte wenden sich im Herbst an die Medien-HiWis.
In der Bahn auf dem Weg zurück zum Epizentrum des Festivals, dem Potsdamer Platz, nimmt mir zum Glück eine 12-Jährige jegliche kurzfristig aufkeimenden Zweifel an der Ausrichtung der Veranstaltung. Tara malt Filmszenen in ein Heft, klebt Eintrittskarten ein und bewertet das von ihr Gesehene. Im Gegensatz zu mir, die immer mal wieder gehetzt von einem Spielort zum nächsten rennt, hat Tara genau geplant, wie lange sie vom Haus der Kulturen der Welt zum Friedrichstadt-Palast braucht, fundierte Programmkenntnis inklusive. 10 Tage im Februar stehen für das Mädchen im Zeichen der Berlinale.
Während dieser 10 Tage laufen neben den 18 Wettbewerbsfilmen, die um die silbernen und goldenen Bären konkurrieren, Kunst- und Kinderfilme, Dokumentationen, Serien sowie Animiertes. Alle Beiträge behalten ihren Originalton, kein Popcorn knirscht in den Spielstätten, jeder Film erntet Applaus und in der Regel ist ein Teil der Filmcrew anwesend. Kino sollte immer so sein.
In der experimentellen Sektion Forum ist eigentlich alles möglich. Etwas zu wagen scheint jedoch mit einer Fokussierung auf Stille einherzugehen. Lange Takes, weiche Schnitte, Minimaldialoge; das Ausbleiben von Geschwindigkeit und die Reduktion von Geräuschen fällt gerade aufgrund des Trubels außerhalb des Kinosaals ins Gewicht. Der indische Film Loktak Lairembee verzichtet gar gänzlich auf musikalische Untermalung. „Music is so strong, it really scares me“, so der Regisseur Haobam Paban Kumar, der mit seiner langsam-leisen Erzählweise einen Gegenpol zum schrillen Bollywoodkino bildet.
Auch der japanische Film Yozora ha itsu demo saikou mitsudo no airo da bebildert sein Sujet ruhig und reduziert. Yuya Ishiis Beitrag erzählt von Tokio als einer Traumwelt der Wiederholungen und Zufälle. Kleine Beben erschüttern die Großstadt und die Beziehungen ihrer Bewohner, ohne jenen ganz die Hoffnung zu nehmen. Überraschende, animierte Passagen deuten an, was in realistischen Aufnahmen zu grob und verstörend wirken würde. Das Drehbuch des Films basiert auf Eindrücken von Gedichten, denn Linearität und logische Strukturen passen nicht zu Yuya Ishiis Wahrnehmung der Welt. „In Tokyo there is really no hope for people today“, sagt der Regisseur lächelnd und lässt ein merkwürdig schönes Gefühl zurück.
Noch im Nachspüren dieser unwirklich poetischen Kinoerfahrung erscheint plötzlich Merle Primke vor mir, die Kieler Bloggerin Küstenmerle. Sie hat sich durch das Programm gearbeitet und Yuya Ishiis Film gewählt, um diese „komplett andere Welt des Japanischen“ zu bereisen. „Die Berlinale ist für mich wie ein Traum, der in Erfüllung geht“.
Während ich schon bald nach Kiel zurückkehre, lässt sich Merle weiter von Berlin inspirieren. Ich verabschiede mich von meinem Neuköllner WG-Zimmer, dessen Umgebung auf mich seit 4 Blocks wie eine Serienkulisse wirkt, und frage mich, was eigentlich sonst in der letzten Woche passiert ist. Nun, Trump twittert, Journalist Deniz Yücel wird in der Türkei festgehalten, Martin Schulz mutiert über Nacht zum Popstar. Festivaldirektor Dieter Kosslick nimmt die Abschlussgala zum Anlass, um ein Fünkchen dieser skurril-verstörenden Realität in die schillernde Berlinalewelt zu lassen. „Thanks to all the filmmakers who tried to save the world with poetry over the last ten days”. Das war also diese Berlinale.
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Wilde Maus
Rasanter Wahnsinn von und mit Josef Hader (ab 09.03.2017 im Studio Kino)
Golden Exits
Hübsch-melancholisches Großstadt-Indie-Drama von Alex Ross Perry und mit Jason Schwartzman (gefälligst auch bald in Kiel)
From a Year of Non-Events
Ein Kunstwerk des Banalen, Dokumentation über einen fast 90-Jährigen aus Glücksburg bei Flensburg von René Frölke und Ann Carolin Renninger (zu gut, um nicht bald irgendwo zu sehen zu sein)
Bildquelle: Anna Siebert
Hier veröffentlicht DER ALBRECHT seine Gastartikel – eingesandt von Studierenden, Professor*innen und Leser*innen der Zeitung.