Die Geschichte der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung
Seit dem Referendum vom 1. Oktober 2017 steht Katalonien europaweit im Fokus der Berichterstattung. Die Frage, ob Katalonien „zu einem unabhängigen Staat in Form einer Republik“ werden solle, beantworteten 90 Prozent der Wähler*innen mit ‚Sí‘. Um das Referendum zu verhindern, entsandte die spanische Zentralregierung ein Großaufgebot der Polizei, das gewaltsam gegen die Bevölkerung vorging. Die katalanische Regionalregierung berichtete von über 800 Verletzten. Zahlreiche Wahllokale wurden gesperrt, sodass insgesamt nur 2,26 Millionen Katalan*innen ihre Stimme abgeben konnten – eine Wahlbeteiligung von 42,3 Prozent.
Als Reaktion auf das Referendum löste die spanische Zentralregierung das katalanische Regionalparlament auf und leitete Strafverfolgungen gegen die politischen Führungspersonen ein. Aufhalten konnte sie die Unabhängigkeitsbewegung damit nicht – im Gegenteil. Die Wahlen im Dezember 2017 brachten den Befürworter*innen der Unabhängigkeit die absolute Mehrheit im Regionalparlament in Barcelona.
Katalanisch – eine eigenständige Kultur und Sprache
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung lässt sich nur über die heterogene Geschichte Spaniens verstehen. Spanien ist eine plurale Nation. Neben Kastilisch („Castellano“), das von herrschenden kastilisch-spanischen Kreisen als die einzige Sprache („Español“) und Leitkultur Spaniens definiert wird, existieren diverse Kultur- und Sprachgemeinschaften, die sich teilweise selbst als eigenständige Nationalitäten auffassen: Andalusisch, Aragonesisch, Asturisch, Baskisch, Galicisch und Katalanisch. Ihre Ursprünge haben sie im Mittelalter.
Eine bedeutsame Zäsur für die Geschichte der iberischen Halbinsel war die Eroberung durch die Mauren – muslimische Berberstämme aus Nordafrika – im 8. Jahrhundert. Diese drangen weiter nach Norden ins Frankenreich vor und wurden schließlich 732 bei Poitiers geschlagen. Zur Sicherung ihrer Grenzen besetzten die fränkischen Herrschenden das Gebiet zwischen Pyrenäen und Ebro und gründeten dort die Grafschaft Barcelona – die territoriale Grundlage des heutigen Kataloniens. Während der größte Teil Spaniens für Jahrhunderte zur muslimischen Welt gehörte und von dieser geprägt war, hatte der fränkische Einfluss maßgebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der katalanischen Kultur und Sprache. Noch heute weist Katalanisch eine Übereinstimmung von 41,4 Prozent mit Französisch auf – mit Kastilisch („Spanisch“) nur 27,2 Prozent.
Ein katalanisches Handelsimperium im Mittelalter
Die Zeit zwischen Hochmittelalter und Beginn der Neuzeit war geprägt durch die Reconquista – die Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den muslimischen Herrschern. Dabei entstanden die christlichen Königreiche Aragón, Kastilien, León, Navarra und Portugal und mit ihnen die kulturelle Vielfalt Spaniens. Auch die katalanische Kultur- und Sprachgemeinschaft differenzierte sich: Die frühesten schriftlichen Belege der Selbstbezeichnungen „Katalonien“ und „katalanisch“ sind etwa auf die Zeit um 1100 zu datieren.
Im Verlauf der Reconquista wurde Katalonien – ab 1137 als vereinigtes aragonisch-katalanisches Königreich – zu einer Großmacht im Mittelmeer. Angetrieben von der Entwicklung der Gewerbeproduktion strebte das städtische Bürgertum nach einem ausgedehnten Handelsnetzwerk. Mitte des 14. Jahrhunderts umfasste das katalanische Gebiet die Balearen, Valencia, Sardinien, Sizilien sowie Teile Griechenlands. Katalanisch fungierte als allgemeine Verkehrssprache im Mittelmeerraum.
Verlust der Unabhängigkeit und Kastilisierung
Das ausgehende Mittelalter war ein Wendepunkt in der spanischen Geschichte. Im 15. Jahrhundert wurde das Königreich Kastilien zur militärisch-politischen Führungsmacht Spaniens. Katalonien hingegen machte eine tiefe Krise durch. Der Reichtum seiner Handelsstädte beruhte auf der feudalen Ausbeutung der Landbevölkerung. Die Bauern, deren Lage in Katalonien im inner-iberischen Vergleich besonders elend war, erhoben sich 1462 zum Aufstand. Die Adeligen Aragón-Kataloniens führten indes einen Bürgerkrieg um die Krone. Als Ausweg befürworteten vor allem das städtische Bürgertum und der niedere Adel eine politische Vereinigung mit Kastilien, die 1479 formell vollzogen wurde.
Das strategische Kalkül des katalanischen Handelsbürgertums, in der Vereinigung die eigene ökonomische Stärke nutzen zu können, ging jedoch nicht auf. Mit der Entdeckung Amerikas verlagerten sich die Handelswege zunehmend vom Mittelmeer auf den Atlantik. Während das katalanische Handelsnetzwerk zusammenbrach, stieg Kastilien zu einer Kolonial- und Weltmacht auf. Damit begann der Prozess der Kastilisierung – vorangetrieben von den Herrschern aus dem Haus Habsburg im 16. und 17. Jahrhundert. Diese verfolgten große Ambitionen in Europa: ein katholisch-habsburgisches Weltreich sollte geschaffen werden. Spanien musste dafür einheitlich und strikt regiert werden. Minderheiten und Opposition wurden grausam verfolgt – unter anderem von der spanischen Inquisition.
Widerstand gegen Unterdrückung und Faschismus
Die katalanische Bevölkerung wehrte sich gegen den Verlust der Eigenständigkeit: Zum Beispiel von 1640 bis 1652 mit Ausrufung einer katalanischen Republik und einem erfolglosen Krieg gegen Kastilien; oder durch die Teilnahme im Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714. Dessen Ausgang war für Katalonien fatal. Spanien wurde zu einem einheitlichen Königreich unter der Dynastie der Bourbonen, die noch stärker als die Habsburger die Kastilisierung vorantrieben. Kastilisch wurde zur einzigen Sprache Spaniens ernannt. Sprache und Symbole Kataloniens wurden verboten.
Mit den gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts infolge der Durchsetzung der industriellen, kapitalistischen Produktionsweise, veränderten sich die Formen des katalanischen Widerstandes. Ihr Streben nach kultureller Eigenständigkeit verband sich mit dem Kampf um soziale Emanzipation und die Umwandlung Spaniens in eine demokratische Republik.
Die Ausrufung der Spanischen Republik 1931 brachte Katalonien eine von der Verfassung garantierte Autonomie. Der Wahlerfolg der Volksfront 1936 sicherte der katalanischen Kultur die völlige Gleichberechtigung. Sie war aber nicht von langer Dauer. Gegen die Spanische Republik putschte das Militär unter General Franco – unterstützt von Hitler-Deutschland und dem faschistischen Italien. Der Spanische Bürgerkrieg begann. Katalan*innen standen Seite an Seite mit den republikanischen Kräften ganz Spaniens, konnten sich der Übermacht des Gegners aber nicht erwehren. 1939 wurde Spanien eine faschistische Diktatur, die sich bis zum Tod des Diktators Franco im Jahr 1975 hielt. In dieser Zeit wurden, neben unzähligen Gewerkschafter*innen, Kommunist*innen und Republikaner*innen, auch tausende Katalan*innen vom Regime ermordet.
Die Transición – Hoffnungen und Enttäuschungen
Die Transición, der Übergang von Diktatur zur Demokratie, entfachte große Hoffnungen bei den unterdrückten Kultur- und Sprachgemeinschaften Spaniens. Die wenigen Jahre der Zweiten Spanischen Republik (1931 bis 1939) hatten gezeigt, welche Möglichkeiten kultureller und politischer Eigenständigkeit es gab. Diese Hoffnungen wurden aber enttäuscht. Zwar billigte die spanische Verfassung von 1978 vielen Regionen eine gewisse Autonomie zu, die kastilische Vorherrschaft blieb aber bestehen. Artikel 3 §1 der Verfassung lautet: „Das Kastilische ist die offizielle spanische Sprache des Staates. Alle Spanier haben die Pflicht sie zu beherrschen und das Recht sie zu benutzen.“ Spanien wird dort als „unauflösliche Einheit der spanischen Nation“ tituliert.
Die zu Beginn der Transición unter den Katalan*innen vorherrschende Vorstellung eines autonomen Kataloniens innerhalb einer Spanischen Föderation wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten untergraben. Die spanische Zentralregierung widersetzte sich allen Forderungen nach mehr Autonomie. Nachdem ein weiterer Versuch, die katalanische Autonomie auszuweiten, 2010 vom spanischen Verfassungsgericht zu Fall gebracht wurde, sahen viele Katalan*innen keine Zukunft mehr in einem vereinigten spanischen Staat. Eine für 2014 geplante katalanische Volksbefragung wurde von der spanischen Zentralregierung noch verhindert. Das Unabhängigkeitsreferendum vom Oktober 2017 konnte sie – trotz Polizeieinsatz und Strafverfolgung – nicht aufhalten.
Titelbild: Demonstration am 11. September 2016 (Diada Nacional de Catalunya) in Barcelona
Quelle: Assemblea.cat (Flickr)
Mark studiert Prähistorische und Historische Archäologie sowie Soziologie an der CAU. Seit dem Sommersemester 2017 gehört er zur ALBRECHT-Redaktion.