Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Wir befinden uns in einem Museum und betreten den ersten Ausstellungsraum. Links und rechts von uns stehen Glaskästen mit Exponaten. Jeder Glaskasten ist beschriftet und der Inhalt katalogisiert. Uns wird vom Guide erklärt, was bei der Auswahl wichtig sei: Ausgestelltes muss fremd sein, von der ‚Norm’ abweichen und auf keinen Fall darf es selbstverständlich sein. Doch was wird überhaupt ausgestellt? Ein Hinweis: Im Glaskasten zu unserer Rechten steht ein Exponat, für welches ein Kollektivname geführt wird. Im Glaskasten neben uns steht ein Mensch. Die Merkmale, die erwähnenswert scheinen, sind auf dem Kärtchen benannt. Der gesamte Raum ist gefüllt mit diesen ‚Benannten’: Dort steht „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund.“ 

Dieses ‚Museum der Sprache’ ist nun nicht meine Idee. Für jenen Ort, an welchem privilegierte Menschen, die ‚Unbenannten’, die Welt aus ihrer Perspektive abbilden, hat Kübra Gümüşay Worte gefunden. In ihrem Buch Sprache und Sein beleuchtet sie auf mehreren Ebenen, wie Sprache Existenz beeinflusst. Sie teilt Erfahrungsberichte und Studien, um an neue Sichtweisen der Sprachwahrnehmung heranzuführen. 

Sprache bestimmt unser Leben und dennoch nehmen wir sie oft nur unterbewusst wahr. Zur Erklärung dieser paradoxen Aussage verwendet Kübra Gümüşay eine Analogie von David Foster Wallace: „‚Schwimmen zwei junge Fische ihres Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‚Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‘ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ‚Was zum Teufel ist Wasser?‘’, – Sprache in all ihren Facetten – ihr Lexikon, ihre Wortarten, ihre Zeitformen – ist für Menschen wie Wasser für Fische.“ Oder denkt ihr etwa gerade beim Lesen bewusst darüber nach, dass ihr einen Text in deutscher Sprache lest? Habt gar die Zeitformen ermittelt? Jetzt tut ihr das vielleicht tatsächlich, wegen der Fragen. Aber zuvor ist diese Sprachwahrnehmung direkt in das Unterbewusstsein gerauscht. 

In fremden Gewässern 

Kübra Gümüşay lässt uns aber auch in andere Sprachen eintauchen. Wer schon einmal eine neue Sprache erlernen durfte, versteht, warum Wortfindung manchmal Kopfzerbrechen verursacht. So gibt es Begriffe, die kaum übersetzbar sind, sowie Gefühle, die sich nur in bestimmten Sprachen ausdrücken lassen. Einige Empfindungen, von denen Gümüşay die Fremdwörter nennt, sind mir zwar bekannt, kurioserweise konnte ich diese jedoch nie ausdrücken, weil kein Begriff aus meinem Wortschatz so recht passen wollte. Doch was wäre nun, wenn mir nicht nur ein einzelnes Wort fehlte, sondern eine gesamte Zeitform? Gümüşay erzählt vom Volk der Pirahã, die keine Vergangenheitsform kennen. Bei dem Amazonas-Volk wurde das Missionieren zur Mission Impossible. Christliche Geschichten aus längst vergangenen Zeiten konnten das Volk ohne Vergangenheitsvorstellung nicht beeindrucken. Friedhöfe, Evolutionstheorie oder Erinnerungskultur brauchen die Pirahã nicht: Sie leben im Jetzt. Für mich eine fast nicht greifbare Vorstellung. 

Ähnlich unvorstellbar ist für mich ein Erfahrungsbericht der Autorin. So nimmt sie die Leser:innen mit in ihre Schulzeit. Im Lebenslauf für ihr erstes Praktikum stolpert sie über den Punkt „Sprachkenntnisse“. Deutsch, Englisch, Latein listet sie auf. Türkisch gehört aber nicht dahin, obwohl es ihre Muttersprache ist. Weil schon ihre Grundschullehrerin erklärt hat: „Türkisch wird hier nicht gesprochen.“ Schon früh unterdrückte sie so einen Teil ihrer Identität. Im Leseverlauf wird immer wieder deutlich, wie diese zwanghafte Verleugnung ihrer Muttersprache dem Prozess des freien Sprechens im Wege steht. Wie auch sie eine ‚Benannte’ im ‚Museum der Sprache’ ist. Nicht als Individuum wahrgenommen wird, sondern im Kollektiv. Ein Mensch, der sich nach Gleichheit sehnt. 

Gegen den Strom 

Im Langessay widmet sich Kübra Gümüşay neben solchen Erfahrungen aus der Vergangenheit auch aktuellem Geschehen. An vielen Stellen wird Sprache zur Waffe, besonders im virtuellen Raum. „Gerade einmal fünf Prozent aller Accounts sind für 50 Prozent aller Hasskommentare [auf Facebook] verantwortlich“, schreibt sie. Dennoch, so zeigt Gümüşay, geben wir diesen Kommentierenden unverhältnismäßig viel Raum. Obwohl diese Stimmen an den Grundfesten gesellschaftlichen Lebens rütteln, bestimmen sie unseren Diskurs maßgeblich. Die Autorin weist darauf hin, wie oft wir versuchen, die Perspektive der Hassenden einzunehmen und dabei sogar manchmal die eigene Perspektive zurückstellen. Hier stellt Gümüşay Fragen. Viele Fragen, bei denen ich auf den Boden stampfen möchte, weil ich Antworten verlange. Von ihr, von mir, von der Gesellschaft. 

Der Sprung ins Wasser 

„[Die Veröffentlichung] hat mir auch gezeigt, wie viele Menschen Benannte sind. Wie viele Menschen beharrlich gegen diese Glaskäfigmauern stoßen und sich die Nasen und Gesichter blutig schlagen, verzweifelt sind“, sagte Gümüşay auf einer Veranstaltung der CAU. Ich bin sicher: Wer diese Verzweiflung kennt oder erlebt, fühlt sich in Kübra Gümüşays Worten verstanden. Aber auch für ‚Unbenannte’ ist Sprache und Sein unbedingt eine Leseerfahrung wert. 

Für Menschen, 

  • die aus Ermüdung im Diskurs schon verstummt sind.  
  • die neugierig sind, warum gesalzener Kaffee getrunken wird. 
  • die ihre Sprache neu wahrnehmen möchten. 
  • die bereit sind, bunte Vielfalt in ihr leberwurstgraues Leben zu lassen. 
Autor*in
Ressortleitung Kultur

Lena studiert Medienwissenschaft und Anglistik und leitet seit Januar 2024 das Kultur-Ressort. Seit November 2020 ist sie Teil der Albrecht-Redaktion, wo sie über Theater, Kino, Oper, Literatur schreibt. Selten verirrt sie sich auch in Themen der Hochschule und Gesellschaft.

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