Warum während des Festivalsommers 2015 ein anderer Wind weht.
In unserem letztjährigen Artikel über die norddeutsche Festivallandschaft orakelten wir noch, dass dessen anhaltendes Wachstum in naher Zukunft zum Kollaps führen würde. Ganz falsch lagen wir damit wohl nicht, allerdings rühren die Probleme derzeit weniger von der eigenen Hybris als vielmehr von der Vehemenz eines neuen Konkurrenten her dessen Präsenz 2015 landesweit spürbar ist.
Die Rede ist von Rock im Revier (ehemals Grüne Hölle Rock) sowie dessen Ablegern Rockavaria und Rock in Vienna (der natürlich nicht wirklich in Deutschland stattfindet, aber trotzdem). Diese stellen insofern einen Bruch mit den bisherigen Traditionen dar, als dass sie nicht mehr auf einen sukzessiven Aufbau setzen, sondern bereits im ersten Jahr als dreitägige Großveranstaltung mit entsprechendem Kapital auf den Markt drängen. Das bekam zuerst die Konkurrenz von Rock am Ring zu spüren, die man quasi von ihrem angestammten Gelände am Nürburgring verdrängte, nur um dann wenige Monate später doch lieber in das Gelsenkirchener Fußballstadion umzuziehen.
Fressen und gefressen werden
Aber solche Albernheiten einmal außen vor: Mit Rock im Revier erreicht der Verdrängungswettbewerb unter den Festivals eine neue Qualität, ein Umstand, den jede Veranstaltung ab mittlerer Größe zu spüren bekommt. Im Norden sind dies (aufgrund einer vergleichbaren stilistischen Auffächerung) vor allem das Hurricane– und Deichbrand-Open-Air, die erkennen müssen, dass nicht nur um das Publikum sondern auch um die Bands mit zunehmend härteren Bandagen gekämpft wird. Denn während die Nachfrage steigt, stagniert die Anzahl der Kapellen, die man als Headliner (oder zumindest in guten Positionen) auf die Bretter stellen kann. Entweder spielen folglich bald überall dieselben Nasen oder – was sich derzeit eher abzeichnet – die Bands binden sich in einem Jahr exklusiv an ein Festival. Die Folgen sind unschwer zu erkennen: Gagen steigen und mit ihnen die Ticketpreise, während die Qualität des Line- Ups zunehmend abnimmt, da sich die Hochkaräter auf immer mehr Veranstaltungen verteilen. Prognose: Spätestens ab Sommer 2020 bleiben wir dann alle lieber zu Hause.
Krisensicher: Metall. Schweres Metall.
Aber nur, wenn man nicht zu den knapp 100 000 gehört, die nach Wacken fahren, wo das Festival mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch dann noch ausverkauft sein wird, wenn die Konkurrenz längst die Segel gestrichen hat. Hier verzeichnete man in diesem Jahr erneut einen ziemlich unglaublichen Vorverkaufsrekord, als nach lediglich 48 Stunden alle Tickets restlos vergriffen waren – das sogenannte „Holy Land“ (natürlich nicht ordnungsgemäß vom Papst, sondern von den Veranstaltern selbst heiliggesprochen) steht wie einst das gallische Dorf in der norddeutschen Pampa.
Doch auch in der Pilgerstätte des Metals muss man Abstriche machen: Die von den Fans vehement geforderte Verpflichtung von Metallica wird zunehmend unwahrscheinlicher, da sich diese exklusiv an Rock am Ring oder Rock im Revier ketten lassen – wohl ein faustischer Pakt. Auffällig ist auch, dass neben Judas Priest („Breaking the Law“) und Santiano („Gott muss ein Seemann sein“) Bands wie Rob Zombie und Dream Theater das Line-Up anführen, die in diesem Jahr erstmalig auf Wacken spielen. Hier bemüht man sich, rechtzeitig neue Headliner zu etablieren, damit man 2016 hoffentlich nicht mangels Alternativen wieder auf die Scorpions („Wind of Change“) zurückgreifen muss, die ja vor allem deshalb verfügbar sind, weil sie außer dem diesjährigen Familienfest am Eckernförder Hundestrand keiner unter Vertrag nehmen will.
Dennoch gute Typen diese Metaler: Es ist zwar längst zum Klischee verkommen, doch auch 2015 erscheint die Solidarität mit der sich die Szene gegen die äußeren Umstände stemmt erstaunlich ungebrochen. So kündigen etwa die Altenessener Thrash-Ikonen Kreator („Pleasure to Kill“) ihr lukratives Engagement bei Rock im Revier auf, als klar wurde, dass das Festival nach Gelsenkirchen verlegt wird. Der Grund dafür: Die Band war bereits als einer der Headliner des traditionsreichen Rock Hard-Festival gebucht, das nur ein paar Steinwürfe entfernt stattfindet und dessen Zugkraft man nicht durch Dauerpräsenz unterminieren wollte.
Die hässliche Fratze des Metals – sie wird einem doch zunehmend sympathischer, je deutlicher hervortritt, was für ein Herz in ihrer mit Pentagrammen verzierten Brust schlägt. Welche Abgründe sich hingegen noch hinter der gepflegten Fassade der bundesdeutschen Festivalbuchhalter verbergen, möchte man sich gar nicht erst ausmalen. Die Auswüchse werden sich ohnehin bald bestaunen lassen – ab 2016 auf einem Acker auch in Eurer Nähe.
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Der Autor dankt Dr. Heiko Bannick für seine Mitarbeit an diesem Artikel.
Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.
Ein Kommentar
Das „Rock am Ring“ dem Nürburgring weichen musste, lag ja nicht an „Grüne Hölle“ sonddern am neuen Nürburgring-Besitzer Capricorn, die der MLK, die als Veranstalter von Rock am Ring fungiert, eine wesentlich höhere Beteiligung am Gewinn einforderte. Nachdem MLK dem nicht zustimmte, und Capricorn dennoch nicht auf die Einnahmen auf ein Festival verzichten wollte, kam die DEAG dann ins Spiel, die mit den Forderungen des Rennstreckenbetreibers einverstanden war. Da aber wie erwartet das neue Festival am Ring kaum Kartenverkäufe verzeichnete (schon bei RaR2014 wurde das neue Festival abgelehnt) kam es nun auch hier zum Streit.
Worauf ich hinaus will. Nicht Grüne Hölle sondern Caprocorn hat Rock am Ring vom Nürburgring vertrieben, und sich damit wohl selbst in den Magen geschossen.