Unsere Redakteurin Mirjam war ein Jahr mit Erasmus in Schweden.

Schon, wenn man mit der Fähre einfährt und von der charakteristischen Hafenkulisse Göteborgs begrüßt wird, ist zu erahnen: Dies ist eine ganz besondere Stadt. Natürlich gibt es auffällig viele Leute mit hellblonden Haaren, so wie Michel aus Lönneberga. Aber es ist vor allem auch eine Stadt, in die es Menschen aus der ganzen Welt zieht: Touristen, Business-Leute aus den USA oder Australien. Auch Somalier und Iraner gibt es einige. Gerade im Zuge Schwedens humaner Flüchtlingspolitik wurden viele Flüchtlinge im Land willkommen geheißen. Als Erasmusstudentin erwarte ich hauptsächlich Schweden und andere Europäer kennen zu lernen. Es soll anders kommen. Auf einer Food Rescue Party begegne ich gleich einer ganzen Gruppe von Indern. Auch lerne ich dort die wohl verrückteste Schwedin überhaupt kennen. Ich betrachte gerade das Buffet, als ich ein lautes „Heeej“ höre. „Do you want some mudcake?“. Eine Blondine in einem knallpinken Mantel lächelt mich freundlich an. Ich gucke etwas misstrauisch, „Matschkuchen“ hört sich in meinen Ohren nicht so lecker an und so freundlich werde ich von Fremden meist auch nicht begrüßt. Doch ich denke mir: „Man muss immer höflich sein“. Also probiere ich. Von da an verbringe ich viel Zeit bei Fanny und den Indern im Studentenwohnheim Ostkupan, übersetzt „Käsekuppel“. Zu meinem großen Glück tanzt Fanny genauso gerne wie ich zu Latinomusik und das bei jeder Gelegenheit mit Kopfhörern, egal ob wir in einer Bar zum Essen, beim Grillen oder in der Disko sind. Von Devansh und Bharat erfahre ich viel über das große Land Indien mit seinen vielen Sprachen und unterschiedlichen Menschen, sodass nach und nach eine kleine Landkarte in meinem Kopf entsteht. Zynismus des Schicksals: Während kurz zuvor Indien mit Negativschlagzeilen über Gewaltvorfälle gegen Frauen permanent im deutschen Fernsehen vertreten ist, werden meine französische Mitbewohnerin Héloise und ich von der Gruppe nur männlicher Inder wie Schwestern aufgenommen. Auch meine erste Begegnung mit Héloise ist phänomenal. Ich stehe gerade verlegen im Türrahmen, als sie mit ihrem Koffer zur Tür hineingestürzt kommt, gefolgt von ihren Eltern. Etwas schüchtern stelle ich mich vor, als sie raushaut: „My name is Héloise. Maybe we can do a roadtrip together“. Tatsächlich erkundigen wir wenige Monate später zusammen das bunte Kopenhagen, das moderne und überteuerte Oslo sowie die schlichte, eigenwillige Eleganz von Stockholm.

Um Schweden kennen zu lernen, trete ich gleich zu Beginn des Jahres dem PR-Komitee der Society of International Affairs bei. Schnell stelle ich fest, dass es hier anders läuft, als ich es aus Studentenorganisationen kenne. Zunächst einmal gibt es bei jedem Treffen eine sogenannte Fika, also Tee oder Kaffee mit Keksen. Die Fika scheint zum schwedischen Lebensgefühl zu gehören, bei jeder noch so kleinen Veranstaltung ist sie dabei, oft hört man das Wort Fikapause. Vergebens warte ich auf lange, ausufernde Diskussionen. Stattdessen sind sich alle die meiste Zeit mehr oder weniger einig und erarbeiten effizient, was zu tun ist. Besonders gut gefällt mir der Ausdruck ‚Tack för idag‘, übersetzt so viel wie ‚Danke für den heutigen Tag mit euch‘. Denn er verkörpert in meinen Augen alles, was die schwedische Mentalität, ausmacht: Höflichkeit, Herzlichkeit, Respekt vor anderen sowie eine gewisse Bescheidenheit und Zurückhaltung. Als Norddeutsche bin ich es gewohnt, dass Menschen häufig geradeheraus von sich geben, was sie denken. Die Schweden sind da vorsichtiger, nicht zu Unrecht wird ihnen nachgesagt, die Kunst der Diplomatie zu beherrschen. Ein Thema, was Schweden ganz besonders am Herzen liegt, ist Feminismus, Gleichberechtigung. Adrett gekleidete Männer per Headset telefonieren zu hören, während sie zügig einen Kinderwagen vor sich herschieben, ist nicht ungewöhnlich. Ein schwedischer Politiker, der kein Feminist ist, sei undenkbar, werde ich belehrt. Es gibt sogar eine feministische Partei – auch einige Männer sind dort Mitglied.

Nach 10 Monaten heißt es dann Abschied nehmen. Ich stehe auf dem Deck der Fähre und blicke zurück auf das Lichtermeer über Göteborg. Und denke mir: „In unserem Nachbarland gibt es mehr zu entdecken, als es auf den ersten Blick scheint.“

Mirjam ist seit 2013 Redakteurin des Albrechts.

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