Ein Kommentar von Mimke Lena Teichgräber
Während das Semester wieder begonnen hat, wird weiterhin diskutiert, ob Anwesenheit Voraussetzung für das Bestehen von Lehrveranstaltungen sein sollte oder darf. Menschen aus Politik und Forschung versuchen, Vor- und Nachteile der Anwesenheitspflicht anhand von Argumenten, Statistiken und Kriterien zu quantifizieren. Dabei geht es um mehr als nur da sein oder nicht da sein. Denn die Debatte ist durchdrungen von Annahmen über Ansprüche, Erfolgskriterien und ideale Studierende, die sich durch Entscheidungen oder Gesetze als folgenschwere Norm verfestigen können.
Was sind die aktuellen Kriterien und Ansprüche?
Eine zur Bewertung der Anwesenheitspflicht viel zitierte Arbeit sind Rolf Schulmeisters Studien zur Anwesenheit in Lehrveranstaltungen von 2015. Nach der Metaanalyse von über 158 Studien schrieb der Hamburger Pädagogik-Professor: „Die Mehrheit (149 Studien) kommt zu dem Ergebnis, dass ein hohes Maß an Anwesenheit in Lehrveranstaltungen zu besseren Leistungen führt und umgekehrt größere Fehlzeiten schlechtere Noten zur Folge haben.“ Die Kriterien dieser Studien waren Noten und Durchfallquoten, für die Schulmeister oft „Lernerfolg“ synonym verwendet. Indem er Lernerfolg und gute Noten gleichsetzt, formuliert er einen Anspruch, der einer Leistungsgesellschaft würdig ist. Solche Ansprüche sind häufig verborgen hinter wertenden Ausdrücken wie Erfolg, normal, gut oder ungenügend und beeinflussen unseren Alltag enorm.
Ein Beispiel für Erfolg ist ein Abschluss nach Regelstudienzeit. 2016 schlossen in Deutschland nur 40 Prozent der Bachelorstudierenden und 29 Prozent der Masterstudierenden ihr Studium in Regelstudienzeit ab. Legt man also nur die Zeit bis zum Abschluss als Erfolgsmaß an, schließen weniger als die Hälfte der Studierenden ihr Studium mit Erfolg ab – trotz Zeugnis. Absurderweise kann dieser Anspruch insbesondere durch die BAföG-Regelungen und die Not der eigenen Finanzierung zu einem immensen Druck werden.
Welches Bild von Studierenden haben wir?
Studierende wie auch Nicht-(mehr-)Studierende reden gern und viel vom „faulen Studenten“. Memes, Videos und Zitate, die dieses Klischee unterstreichen, lauern an jeder Ecke und finden Glauben. Eine Verfestigung dieses Bildes von Studierenden sollte jedoch schon am unterschiedlichen Aufbau von Studiengängen, Universitäten und zahlreichen individuellen Faktoren scheitern. Denn jedes Studium kann potentiell Prokrastination und Stress, Freizeit und Zeitdruck, Begeisterung und psychische Zusammenbrüche beinhalten.
Hinter der Kritik an Studierenden stehen die Ansprüche einer Leistungsgesellschaft, in der das Leben auf die eigene Karriere ausgerichtet sein sollte. So ist Schulmeisters Metaanalyse durchdrungen von Vorurteilen über „zu viel“ Freizeit und zu wenig für das Studium aufgewendeter (Präsenz-)Zeit. Dabei gestalten Studierende, auf die seine Kritik zutrifft, ihr Leben lediglich weniger leistungsorientiert und arbeitsfokussiert als vielleicht gesellschaftlich erwünscht. Eine Abwertung darf das Nicht-Erfüllen gesellschaftlicher Ansprüche jedoch nicht rechtfertigen. Denn selbst wenn manche Menschen mehr Zeit als andere in ihr Studium investieren, sind sie damit nicht zwangsläufig wertvoller für die Gesellschaft. Im Gegenteil können Menschen, die sich nicht äußeren Ansprüchen beugen, ungeahnte Werke vollbringen.
Welche Kompetenzen, Eigenschaften oder Qualitäten sind wirklich wichtig?
Die Ansprüche, Regeln und Normen werden hauptsächlich von Menschen gestellt, die ein oder zwei Generationen älter sind als Studierende. Dementsprechend können sie kaum nachvollziehen, wie sich heutige Studierende fühlen und welche Bedürfnisse sie haben. Um eine angemessene Debatte über Anwesenheitspflicht führen zu können, sollten Studierende also nicht bewertet, sondern hinterfragt und außerdem in die Diskussion eingebunden werden. Statt Motivationsmangel mit Zwang zu kompensieren, müssen seine Ursprünge verstanden werden. Denn die eigentliche Frage ist doch: Welche Kompetenzen, Eigenschaften oder Qualitäten sollen Akademiker in Deutschland haben oder erlernen und wofür?
Titelbild: Wikimedia Commons, Uni EF; bearbeitet von Leona Sedlaczek
Studiert seit 2013 Psychologie in Kiel, und frönt dem ALBRECHT seit dem Wintersemester 2014/15, von 2015 bis 2017 als Bildredakteurin und von Januar 2017 bis Januar 2018 als stellvertretende Chefredakteurin.
Ein Kommentar
Pingback: Anwesenheitspflicht: Stimmen vom Campus | DER ALBRECHT