Die Bürde eines Weltbestsellers
Ein Besuch im Buchladen führt mich jedes Mal unweigerlich an den sperrigen Altären und den theatralischen Wänden der Bestseller vorbei – freundlich-aufdringliche Vorschläge. Völlig unempfänglich für diese clever platzierten und hochgelobten Romane bin ich natürlich nicht und lese quer über die Buchrücken mit den zahlreichen Lobeshymnen namhafter Zeitungen.
Was soll an diesen Büchern so weltbewegend sein, dass Millionen von Menschen sie lesen? Oder besser, was möchte DER SPIEGEL mir dieses Mal in mein Bücherregal zaubern?
Es ist schon einige Monate her, dass Buchläden den besten Platz für Haruki Murakamis Roman Die Ermordung des Commendatore – Eine Idee reservierten. 2018 erschien das Buch im DuMont Buchverlag und wurde schnell als „hohe Handwerkskunst“ (ORF Ö1) des „diskreten Zauberers“ (Süddeutsche Zeitung) betitelt. Wenig später erschien Band 2: Die Ermordung des Commendatore – Eine Metapher wandelt sich.
Wiederholt hielt ich die Bücher in der Hand und legte sie jedes Mal an ihren Platz zurück. Es waren schlussendlich die näher rückenden Klausuren, die mich überzeugten, das Taschenbuch mitzunehmen. Doch erst einmal landete das Buch auf dem Stapel auf meinem Nachtisch, welcher mir Mitte März ohne Arbeit und Uni ausgesprochen attraktiv erschien. Nach der monatelangen Skepsis fiel Murakamis Werk meinem Tatendrang als erstes zum Opfer.
Unwirkliche Ereignisse
Der zweiteilige Roman ist die Geschichte eines 36-jährigen Porträtmalers, der sich nach der Trennung von seiner Frau auf die Suche nach einem neuen Lebensinhalt begibt. Er bezieht den ehemaligen Wohnsitz eines bekannten, japanischen Malers, ein kleines Haus in den Bergen. Die weiße Leinwand, die er täglich ohne Inspiration anstarrt, bleibt leer, bis er den Auftrag des reichen Unternehmers Menshiki annimmt. Die Begegnung mit Menshiki und der Fund eines Gemäldes auf dem Dachboden legen den Grundstein für eine Reihe merkwürdiger Ereignisse, die zunächst unerklärbar scheinen und sich später als eindeutig unnatürlich entpuppen.
Wider Erwarten nimmt der namenlose Protagonist diese Geschehnisse gefasst hin. Er findet sich nicht in einer Fantasie-Geschichte wieder. Hingegen scheinen sich die übernatürlichen Dinge makellos in einen ansonsten gewöhnlichen Alltag einzufügen.
„Ich schreibe Märchen für Erwachsene“, sagte Murakami einmal in einem Interview mit der ZEIT. In der Tat erinnert die Geschichte an die fantastischen Welten von Cornelia Funke aus meiner Kindheit. Nur geht es hier nicht um ein wenig Magie und fremde Wesen. In Murakamis Welt nehmen nicht-greifbare Begriffe – wie die titelgebende ‚Idee‘ – Gestalt an und nehmen physischen Einfluss auf die Handlung.
Ein Netz aus Handlungssträngen und Andeutungen
Bemerkenswert ist die Gelassenheit, mit der die Geschichte erzählt wird. Ohne Eile, sondern mit schlichten und lakonischen Sätzen und wiederkehrenden Strukturen wird die Handlung aufgebaut und dabei langsam aber sicher immer verworrener.
In diese ineinander verwobenen Handlungsstränge ist nicht nur jedes Geschehen rund um das Haus auf dem Berg eingesponnen. Auch die Gedanken des Protagonisten an seine Ex-Frau oder die Erinnerungen an seine verstorbene Schwester verknüpfen sich auf surreale Weise mit den Geschehnissen.
Murakami verbindet nicht nur Handlungsstränge auf sonderliche Art und Weise: Vor ihm bleiben auch Kultur und Pop nicht sicher. Das Buch ist übersät mit Analogien zu Filmen, Musik und Malerei – doch besonders scheint es ihm die Philosophie angetan zu haben. Bleiben diese geschickten Anspielungen unentdeckt, mag das Buch schnell als „eine Enttäuschung von einem Autor, der schon bessere Werke erschuf” (The New York Times) erscheinen.
Neben diesen kulturellen Ausflügen führt ein weiteres Stilmittel durch die Kapitel: Der Text ist gespickt mit Wortwitzen und stilistischen Mitteln, die an den unvorhersehbarsten Stellen für Komik sorgen. Ein schlichter Schreibstil droht schnell langweilig zu werden, doch Murakami bringt wiederkehrend und subtil Ironie und Zynismus zum Ausdruck. Die Genialität dieser Einwürfe ist auch ein Verdienst der Übersetzerin Ursula Gräfe.
Ein Werk zum Genießen
Die skurrilen Ereignisse rund um den Maler eröffnen die Frage, ob die Kunst seinem Schöpfer oder mir, seiner Konsumentin, einen gewissen Grad an Wahnsinn abverlangt. Eine Bereitschaft, über den Tellerrand des Bekannten hinauszuschauen? Oder brauchen wir alle einen kleinen Knacks, um das Ästhetische wertschätzen zu können? Die Fragen lassen sich ins Endlose erweitern, doch das verlangt die Geschichte nicht, um sie genießen zu dürfen.
Der zweiteilige Roman fordert keine ausufernden Handlungen. Die Schlichtheit der Erzählung mit ihren surrealen Ausflügen liefert mit all ihren Anspielungen ein unvergleichbares Leseerlebnis. „Fantastisch zu lesen“ (SRF Literaturclub), „einfach und ohne Eile“ (The Guardian) zieht Murakami Leserinnen und Leser in den Bann, um in eine „magische Geschichte“ (Playboy) „zwischen Halluzination und Realität“ (SPIEGEL ONLINE) einzutauchen – so tönt es zutreffend in den Rezensionen. Nachdem ich beide Bände verschlungen habe, musste ich feststellen, dass einige Bücher vollkommen zu Recht an der Spitze der Bestsellerlisten thronen.
Eines vermisse ich jedoch in den meisten Kritiken: Der Witz des Erzählstils wird nicht ausreichend gewürdigt. Fände der lakonische Humor auf dem Buchrücken Erwähnung, hätte ich das Buch schon viel früher eingesteckt.
Alexandra studiert Biochemie und Molekularbiologie. Sie ist seit Oktober 2016 beim Albrecht als Redakteurin aktiv, schreibt über Hochschulforschung oder gibt im Gesellschaftsressort ihre Meinung zum Besten und beim Layout und Design der Zeitung hilft sie gerne aus.