„Stell dich doch nicht so an“, „Jeder hat mal einen schlechten Tag“, „Du musst dich nur etwas anstrengen“ oder „Du bist doch verrückt“ sind alles Aussagen, die jeder Mensch mit einer psychischen Erkrankung schon mindestens einmal zu hören bekommen hat. Viele betroffene Menschen erleben dadurch, neben ihrer psychischen Erkrankung, auch noch eine zweite Krankheit: die der Stigmatisierung.   

Knapp 30 Prozent der in Deutschland lebenden Erwachsenen sind jedes Jahr von psychischen Erkrankungen betroffen. Weltweit sind die Zahlen ähnlich. Trotz dieser hohen Anzahl an Betroffenen herrscht bei dem Großteil der Gesellschaft nach wie vor ein falsches Bild von psychischen Erkrankungen – wie der aktuelle Fall des Tennis-Stars Naomi Osaka deutlich macht. Nachdem Osaka Ende Mai 2021 verkündet hatte, dass sie aus „mental health reasons“ nicht an den Pressekonferenzen der French Open teilnehmen werde, hagelte es von allen Seiten Kritik. „Für Sie als Journalisten, für sie (Osaka) persönlich und für den Tennis im Allgemeinen. Ich denke, es ist ein gigantischer Fehler“, sagte Gilles Moretton, der Präsident des französischen Tennisverbandes laut der Sportzeitung L’Équipe. Wenige Tage später meldet sich Osaka erneut zu Wort und erklärte, dass sie seit 2018 Depressionen und eine Angststörung habe und nun ganz auf ihre Teilnahme an den French Open verzichten möchte. Und die Kritik hagelt weiter: Die DTB-Tennis-Bundestrainerin Barbara Rittner äußerte sich gegenüber dem Deutschlandfunk, dass sie fände, dass es einige Widersprüche gäbe, die es schwer machen zu beurteilen, ob Osaka wirklich Depressionen und Angstzustände habe. 

Kein gebrochenes Bein 

Auch wenn es Naomi Osaka besonders hart trifft, da sie ihre Erkrankung vor der gesamten Sportwelt rechtfertigen muss, ist ihr Fall keineswegs ein Einzelschicksal: Weltweit treffen Betroffene auf Unverständnis und Verurteilungen von gesunden und ignoranten Menschen. Die Erkrankung wird nicht nur angezweifelt, manche Betroffene werden auch der Lüge bezichtigt: Sie würden die Krankheit als Ausrede für vermeintliches Fehlverhalten vorschieben. Der Grund für eine solche Reaktion ist neben der offensichtlichen Ignoranz die Tatsache, dass psychische Erkrankungen nicht sichtbar sind. Hätte Osaka aufgrund eines gebrochenen Beines abgesagt, hätte es anstatt Kritik Genesungswünsche geschneit. Doch eine Depression und eine Angststörung sind nicht sichtbar und scheinen für viele das kleinkindliche Argument von „Was ich nicht sehen kann, gibt es auch nicht“ zu sein. Dass dies wenig förderlich, sondern vielmehr gesundheitsschädlich für Betroffene ist, scheinen die kommentierenden Menschen nicht zu verstehen oder schlicht zu übergehen.  

Ohne Akzeptanz keine Genesung 

Den eigenen Gesundheitszustand abgesprochen zu bekommen oder sich auch nur rechtfertigen zu müssen, ist eine zusätzliche Belastung für Erkrankte. Eine psychische Krankheit an sich ist schon eine große Beeinträchtigung, allerdings säen die Zweifel an der Wirklichkeit einer Erkrankung von Außenstehenden auch immer Zweifel bei den Betroffenen selbst. Hört eine Person mit Depressionen zum Beispiel zu oft den Satz „Stell dich doch nicht so an“, wird sie ihn adaptieren und von sich selbst denken, dass sie nur überreagiert. Im schlimmsten Fall wird sie sich nicht die Hilfe holen, die sie dringend braucht. Die ohnehin schon schlechte biochemische Aufstellung des Gehirns eines betroffenen Menschen wirkt umso mehr als Sog für negative Glaubenssätze, wenn diese den Betroffenen auch noch vorgehalten werden. Hierdurch entsteht ein Teufelskreis, aus dem die erkrankte Person alleine nur schwer entkommen kann und die ignorante Person mehr vermeintliche Gründe für Kritik findet.  

Wenn Positivität toxisch wird 

„Du musst einfach positiv denken“ oder „Meditier doch mal“ – so sehen oft die Hilfsangebote von Bekannten psychisch Erkrankter aus. „Positiv denken” ist allerdings aufgrund der biochemischen Konstitution von Betroffenen nur schwer möglich. Bei vielen Menschen mit einer psychischen Erkrankung besteht ein Serotoninmangel, der negative Gedankenmuster favorisiert. Auch schaffen vermeintlich positive Glaubenssätze wie „Du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst“ bei psychisch Erkrankten einen Druck, nachdem sie sich nur genug anstrengen müssen, um zu gesunden. Jedoch hat Anstrengung und Wille bei jeder Art von Erfolg bei Betroffenen nur einen geringen Einfluss. Wie gut oder schlecht ein:e psychisch Kranke:r etwas vermeintlich Einfaches wie zum Beispiel eine Nachricht schreiben, bewältigen kann, hängt nicht von der Qualität der Anstrengung oder des Willens ab.  
Solche positiven Glaubenssätze sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet und führen (nicht nur) bei psychisch Erkrankten zu Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, wenn sie etwas nicht können oder schaffen.  
Auch Meditation ist kein Allheilmittel, wie es gerne propagiert wird: Besonders Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) müssen hier besonders vorsichtig sein. Denn eine Meditation kann bei ihnen Flashbacks auslösen und so zu einer Retraumatisierung führen. 

Ein offenes Ohr ist die halbe Miete 

Neben einer guten Therapie ist auch das Umfeld ausschlaggebend für die Genesung von psychisch Erkrankten. Hierbei kommt es aber weniger auf therapeutische Ansätze an, sondern lediglich auf Anerkennung und Wertschätzung. Betroffene brauchen ein Umfeld, welches sie unterstützt, indem es zuhört, Probleme anerkennt und auf Schuldzuweisungen verzichtet. Dies scheint banal, doch haben viele damit Probleme, wie auch der Fall Osaka zeigt. In einer von Leistung geprägten Gesellschaft hat Schwäche keinen Platz und jede:r, der:die sie zeigt, wird dafür bestraft. Dass es das System ist, welches die vermeintliche Schwäche fördert, wird übersehen und so bleibt eine Reformation aus. Boris Becker sagte bei Eurosport zum Thema Osaka: „Es passiert oft vielen Spielern, aber sie müssen lernen, mit dieser Art von Druck umzugehen.“ Was in diesen Worten mitschwingt: Osaka sei selbst schuld, wenn ihre Karriere hiermit beendet sei. Toleranz, Akzeptanz und Integration sehen anders aus.  

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