Wer derzeit in die großen deutschen Zeitungen blickt, dem begegnet ein merkwürdig breiter Konsens zu den Vorgängen in der Ukraine. Ob Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt oder Die Zeit – die Berichterstattung differenziert sich allenfalls höchst nuanciert. Gemein ist ihr der Blick auf die Propaganda der russischen Staatsmedien, „Putins schärfste Waffe“ (Die Zeit), – ein Blick, der gleichzeitig auf eine vermeintlich unabhängige und pluralistische deutsche Medienlandschaft verweist, sie aber immer schon unausgesprochen voraussetzt.
Dass die deutsche Pressefreiheit gerade kein zu inventarisierendes Gut ist, sondern immer wieder überprüft und erkämpft werden muss, zeigt die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Bis zum 30. Juni 2015 muss nach dessen Urteil der Einfluss des Staats und der Parteien auf den ZDF-Fernsehrat und -Verwaltungsrat eingeschränkt, die Zahl der „staatsfernen Mitglieder“ in den Gremien erhöht worden sein. Damit reagiert das Gericht auf seine Sorge, der öffentlich-rechtliche Rundfunk könnte sich zum Staatsfunk entwickeln. Derweil suchen konservative Unionsabgeordnete um Fraktionschef Volker Kauder (CDU) schon nach Möglichkeiten, stärker auf die Auswahl von Kandidaten für die Richterposten des Verfassungsgerichts zu achten und deren Amtszeit von derzeit zwölf Jahren verkürzen zu können.
„Deutsche, ihr müsst wieder Abschreckung lernen!“
Vor diesem Hintergrund scheint es überfällig, die konforme Berichterstattung über die Ukraine zu problematisieren. Diese liefert derzeit ein Bild einer gespaltenen deutschen Gesellschaft: Von Putin faszinierte „Russenversteher“ stehen jenen gegenüber, die die völkerrechtswidrige russische Politik verurteilen. Die „Putin-Faszination“, weiß Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ), ist motiviert durch „Anti-Amerikanismus“ und „Europa-Hass“ und mitunter durch bloße Angst vor einer neuen militärischen Konfrontation mit Russland. „Einen verklärten Blick auf Putins Reich“ wirft Christian Neef (Spiegel) den Deutschen vor. Die Deutschen, sagt Neef, stellen die künstlerische russische der kulturlosen amerikanischen Seele gegenüber, projizieren also ihre tiefverwurzelte Skepsis gegenüber Amerika auf ihr Russland-Bild. Damit scheint die Diagnose der deutschen Presse eindeutig: Kritik an der amerikanischen und europäischen Politik ist zwangsläufig mit Wohlwollen gegenüber dem russischen Vorgehen verbunden. Zwischen Europa und den Vereinigten Staaten – beide werden zumeist „der Westen“ genannt – auf der einen und Russland auf der anderen Seite gibt es nur ein Entweder-oder. Eine dritte Position dazwischen schließen Journalisten des Spiegel, der FAZ, SZ, Zeit, Welt und sogar die TAZ schlichtweg aus.
So intensiv sie die „pro-russische“ Position thematisieren, so erstaunlich unterrepräsentiert ist die in der deutschen Medienlandschaft. Allenfalls am ganz linken Rand, wie in der vom Verfassungsschutz als linksextrem bezeichneten Zeitschrift konkret, findet sich Kritik an einem vermeintlich scheinheiligen Pochen auf staatliche Integrität durch die EU und die USA sowie einer „anti-russischen Nato-Expansionspolitik“. Wer nach der „pro-russischen“ Position im Ukraine-Konflikt sucht, der findet sie aber meistens in jener Berichterstattung thematisiert, die ihr Unverständnis gegenüber Russland gleichzeitig mit der eigenen Verortung in der EU, der NATO oder „dem Westen“ verknüpft – also in der überwältigenden Mehrheit deutscher Zeitungen. Letztere nehmen die Journalisten in die Pflicht, mit schärferen Sanktionen gegen Russland vorzugehen und verurteilen zuweilen sogar den kategorischen Ausschluss militärischer Intervention. Henrik M. Broder (Welt) verurteilt die deutsche Haltung „keine harschen Reden, lieber runde Tische“ und nennt NATO, EU und OSZE „nicht einmal bedingt abwehrbereit“.
Während die Mehrheit der Journalisten dabei russische Verwicklungen in die gewaltsamen Aufstände im Osten der Ukraine und zuvor auf der Krim betrachtet, schließt sie ein politisches und wirtschaftliches Interesse der EU und der NATO aus. Sie fordert vielmehr westliche Intervention im Namen der Freiheit und Demokratie und verfällt immer wieder in eine schon überwunden geglaubte Rhetorik des Kalten Krieges. Da sich die russische Politik offenbar nicht mit „europäischen Werten“ vereinbaren lässt, gehört für viele Journalisten Russland nicht mehr zu Europa: Die Welt titelte schon nach dem gescheiterten Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU „Europa hat gegen Russland verloren“. Der Ukraine-Konflikt wird also nicht etwa als europäischer, sondern als europäisch-russischer imaginiert, in dem der russischen Aggression nur mit einer „Containement-Politik“ – wie sie Joschka Fischer in der Süddeutschen Zeitung gefordert hat – begegnet werden könne. Anne Applebaum (Welt) ruft derweil mit ihrer Forderung „Deutsche, ihr müsst wieder Abschreckung lernen!“ den vom ehemaligen US-Verteidigungsminister Robert McNamara geprägten Begriff der nuclear deterrence in Erinnerung. Nukleare Abschreckung sollte einst den Erstschlag des Gegners verhindern und das Gleichgewicht des Schreckens aufrecht erhalten.
Versteckte Meinungsmehrheit?
Entsprechend greifbar ist die „anti-russische“ Position in der Presse, der Alice Schwarzer, Gerhard Schröder und Helmut Schmidt, auf die so oft Bezug genommen wird, als Repräsentanten einer schweigenden deutschen Meinungsmehrheit dienen. Diese Mehrheit wird mit aller Vehemenz konstruiert. Wie ihre Repräsentanten sich im Einzelnen geäußert haben, ist dabei längst vergessen.
Eine vermeintliche Spaltung des Landes kann jedenfalls auch nicht an den Positionen der Parteien zur Ukraine-Krise festgemacht werden. Als Sahra Wagenknecht (Die Linke) im Gespräch mit Handelsblatt Online Kritik übte an der deutschen Unterstützung einer „Putschregierung, der Neofaschisten und Antisemiten angehören“, rief dies die einhellige Empörung auch der SPD und der Grünen hervor. Während die Haltung der Linken für das Völkerrecht einer russischen Minderheit und gegen Faschismus relativ klar ist, spaltet die Ukraine-Krise die deutsche Rechte, aus der ebenfalls Sympathiebekundungen für Russland zu vernehmen sind. Einerseits handelte es sich bei den „anti-russischen“ Aufständen in der Ukraine in der rechten Wahrnehmung um den Ausdruck eines gutzuheißenden ukrainischen Patriotismus. Andererseits widerspräche jedoch die Verurteilung der russischen Politik der in ihr stark verwurzelten Ablehnung alles „Westlichen“ oder „Amerikanischen“. So mag sich die NPD derzeit zu keiner eindeutigen Position in der Ukraine-Krise durchringen.
Von einer ernstzunehmenden deutschen Meinungsspaltung innerhalb der Politik kann also nicht die Rede sein – hier ist die Kritik an der deutschen Verortung innerhalb des „Westens“ und der pauschalen Verurteilung der russischen Politik ebenso die Ausnahme wie in der deutschen Presse. Wo also finden Frankenberger, Neef et al. die vermeintlich ubiquitäre deutsche „Putin-Faszination“? Wenn sie nicht in der Öffentlichkeit geäußert wird, müsste sie im Privaten anzutreffen sein.
Eine Schnittmenge beider Bereiche stellen die Online-Kommentare der deutschen Tageszeitungen dar. In denen wird derzeit tatsächlich harsche Kritik an der EU, der NATO und den Vereinigten Staaten geübt und mitunter Verständnis für das russische Vorgehen in der Ukraine geäußert. Die Leser informieren sich teilweise abseits des „Mainstreams“ anhand russischsprachiger Medien und werfen den Journalisten mitunter „westliche Propaganda“ vor. Doch von solchen Äußerungen auf die deutsche Bevölkerung zu schließen ist unbegründet. Schließlich braucht es, um einen Artikel zu kommentieren schon einen gewissen Antrieb, dem ein bewusster Entschluss folgt. Folglich wird die Kommentarfunktion vermehrt genutzt, um seinem Ärger Luft zu machen, sich zu empören oder etwas richtig zu stellen. Jemandem, der mit der Berichterstattung oder der Meinung des Journalisten einverstanden ist, fehlt oft einfach der Antrieb, zu kommentieren. Kurzum: Der Blick auf die Kommentare liefert kein repräsentatives Meinungsbild.
An repräsentativen Umfragen zur Ukraine mangelt es indes nicht. Nur ist die Frage, inwieweit von ihnen auf eine Haltung gegenüber Putin geschlossen werden kann. Meinen jene etwa, die vor einem allzu großen Verständnis für ein Putin-Russland warnen, dieses Verständnis an aktuellen Meinungsumfragen ablesen zu können? Gefragt, ob Wirtschaftssanktionen gegen Russland dazu beitragen können, die politische Situation in der Ukraine zu lösen, antworteten Ende April laut dem Meinungsforschungsinstitut Forsa nur 22 Prozent mit „Ja“. Die große Mehrheit von 73 Prozent hält Wirtschaftssanktionen für ungeeignet, um die Lage zu beruhigen. Das sind sogar vier Prozent mehr als noch im März – und das obwohl laut Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen mittlerweile drei Viertel der Deutschen durch den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland den Frieden in der Region stark gefährdet sehen. Zwei Drittel befürchten weitere Annexionsbestrebungen Russlands. Im März tat das noch knapp die Hälfte aller Befragten. Gleichzeitig war aber laut Forsa im April die Hälfte der Befragten gegen einen baldigen Eintritt der Ukraine in die EU. Genauso viele sprachen sich gegen eine stärkere NATO-Präsenz an der Grenze zu Russland aus und drei Viertel sogar lehnten einen NATO-Einsatz in der Ukraine ab – selbst wenn Russland weitere Gebiete der Ukraine besetzen sollte.
Ein etwas anderes Bild zeichnet die Infratest dimap in ihrem ARD-Deutschlandtrend für denselben Zeitraum: Fünfzig Prozent seien für wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland und sechzig für eine feste Bindung Deutschlands an westliche Bündnispartner im Ukraine-Konflikt. Der gleiche Anteil der Befragten stimmte jedoch auch für eine Vermittlerrolle Deutschlands in der Ukraine. Für mehr Verständnis für die Position Russlands waren 35 Prozent. Heißt das aber, dass ein Drittel der Deutschen von Putin fasziniert ist und mit seiner Politik sympathisiert?
Westliche Identität nachhaltig erschüttert
Lassen sich an den Umfragen pauschal weder „Putin-Faszination“, „Sowjet-Nostalgie“, genauso wenig wie „Anti-Amerikanismus“ oder „Europa-Hass“ ablesen, so tritt eines umso deutlicher hervor: Die (Nicht-)Verortung Deutschlands in westlichen Bündnissen hängt nicht zwangsläufig mit einer bestimmten Haltung gegenüber Russland zusammen. Viele Deutsche können offenbar eine deutsche Verortung im „Westen“ in Frage stellen und gleichzeitig kritisch auf Russland blicken. Sie können sich gegen eine stärkere NATO-Präsenz an der Grenze zu Russland aussprechen, müssen dafür jedoch nicht gleichzeitig das russische Vorgehen verstehen. Sie zeigen, dass es im Ukraine Konflikt eine dritte Position gibt und dass es möglich ist, sich dem Ost-West-Schema zu entziehen.
Damit reagieren sie auch auf jüngste Erfahrungen, die die westliche Identität nachhaltig erschütterten. Seit den von den Vereinigten Staaten geführten Angriffskriegen im Namen der Freiheit und Demokratie sowie den Menschenrechtsverstößen im Gefangenenlager der Guantanamo Bay Naval Base, spätestens aber seit der NSA-Affäre ist für viele Deutsche klar, dass es „den Westen“ nicht mehr gibt. Längst schon haben sie diese Erfahrungen sensibilisiert für allgegenwärtige wirtschaftliche und machtpolitische Interessen und ein kritisches Hinterfragen „europäischer“ oder „westlicher Werte“. Diese Werte jedoch zitieren derzeit auch die Journalisten der großen deutschen Tageszeitungen, um weiter ihre westliche Identität zu stärken. Und dabei stören Menschen, die sich eine solche Identität nicht einfach überstülpen lassen.
Jonathan studiert Geschichte und Philosophie. Seit April 2014 schreibt er für den ALBRECHT. Sein Interesse gilt besonders Formen studentischer Selbstorganisation.