Stolperstein-Putzaktion in Norddeutschland
Eine Form, die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und an die Opfer zu erinnern, sind Denkmäler, wie etwa Stolpersteine. Stolpersteine sind kleine, quadratische Steine aus Messing, die in Bürgersteige eingearbeitet werden. Auf dem Stein findet man den Namen, das Geburtsdatum und die Todesursache mit (manchmal geschätztem) Todesdatum. Die Personen, an die in dieser Form erinnert werden soll, sind meist unbekannte Persönlichkeiten. Aber sie teilen dasselbe Schicksal; sie wurden durch die Nationalsozialist*innen ermordet.
Die Steine werden meist bewusst an den Stellen platziert, die dem letzten selbstgewählten Wohnort der Person entsprechen. Die gesamte Aktion und Idee wurde von dem Künstler Gunter Demnig losgetreten, der seit den 1990ern die meisten Steine selbst verlegt hat. Um als Laie Stolpersteine erkennen zu können und mehr über sie zu erfahren, hat die Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein die App Stolpersteine SH entwickelt, mit der die Steine gescannt werden können. Über die Verstorbenen, die mit dem jeweiligen Stolperstein repräsentiert werden, stehen in der App Informationen zu ihrem Charakter und darüber, wie ihr Leben ein Ende nehmen musste. In der App können dann Kerzen bei dem jeweiligen Stein platziert werden, um digital zu gedenken.
Eine in Kiel gestartete Aktion breitet sich aus
Mit dem Beginn der Corona-Pandemie und dem Anschlag in Hanau im Jahr 2020 hatten die zwei Kieler Mike Ahlschläger und Thomas Ruhfus den Einfall, auch außerhalb von bezeichnenden Terminen wie dem 27. Januar (die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz) und dem 8. Mai (vollständige Kapitulation der Deutschen) etwas zu organisieren. Ahlschläger und Ruhfus kamen in diesem Zuge auf die Idee, 2021 zum ersten Mal eine Putzaktion zu arrangieren, bei der zunächst die in Kiel verlegten Stolpersteine von freiwilligen Helfer*innen geputzt werden sollten, um den Opfern zu gedenken. Seitdem hat sich die Aktion über Kiel hinaus ausgebreitet und findet unter dem Namen Stolpersteine im Norden auch in Hamburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern statt.
Auch in diesem Jahr wurde die Aktion unter dem Motto Putzen gegen das Vergessen vom 26. bis zum 28. April abgehalten. Allein in Hamburg waren 7 000 Steine zu putzen. In Kiel sind es mittlerweile bereits 271. „Gereinigt werden können die Steine mit einfacher Messingpolitur oder aber mit einer Mischung aus Salz, Wasser und Zitrone“, sagt Ahlschläger. Die App gibt ebenfalls Auskunft darüber, wie man die Steine am besten säubern kann und wo man sie findet. Neben den beiden Gründern der Aktion sind mittlerweile weit mehr Personen und Vereine involviert, die sich an der Organisation und an der Verbreitung der Informationen in den sozialen Medien beteiligen. Auch einige lokale Kinobetreiber haben den Trailer der Putzaktion im Vorfeld in ihren Kinos gezeigt, um darauf aufmerksam zu machen.
Freiwilliges Engagement gegen das Vergessen
Neben den geplanten Putzaktionen können sich Privatpersonen auch aus eigener Initiative engagieren. Dafür können zum Beispiel sogenannte Putzpatenschaften übernommen werden oder einfach spontan ein beliebiger Stolperstein gereinigt und mit Blumen versehen werden. Besonders die Blumen können im Vorbeigehen noch einmal mehr Aufmerksamkeit erzeugen und vielleicht auch die Menschen zum Anhalten bewegen, die nicht wissen, was Stolpersteine sind. So kann das Vergessen verhindert werden. „Es ist wichtig, die Erinnerungskultur aufrecht zu erhalten. Gerade in diesen Zeiten, in denen gewisse Parteien viel Zuwachs erhalten und die Zeitzeugen sterben”, meint auch Ahlschläger. Besonders der Austausch mit jungen Menschen an Schulen und Universitäten sei ihm dabei wichtig. Die Organisation Stolpersteine im Norden führt deshalb immer wieder Workshops an Schulen durch.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“
Dieser Satz steht im Talmud, dem Werk, das die Grundlage für die jüdische Thora bildet. Ähnlich wie die Worte „Say their names“, die den meisten bekannt sein dürften, die schon einmal etwas von der Black Lives Matter-Bewegung gehört haben. Es ist leichter, sich gar nicht mit solchen Themen zu beschäftigen, als sich regelmäßig vor Augen zu führen, was Hass mit Menschen macht, was er anrichten kann und vor allem was er bereits angerichtet hat. Aber wohin führt das Nichtbeschäftigen, wenn nicht zum Vergessen?
Wir – die im jetzigen Deutschland lebenden Menschen – tragen keine Schuld am Nationalsozialismus. Wie auch, wenn die meisten, die das hier lesen, in den 90ern und 2000ern geboren wurden? Wir haben keine Schuld, sondern Verantwortung. Verantwortung, mit den Zeugnissen der Zeit angemessen umzugehen und sie zu respektieren. Zeugnisse aus der Zeit, in der unzählige Menschenleben auf brutalste Art gewaltsam beendet wurden, weil es bestimmten Personen nicht ins Bild gepasst hat, dass sie am Leben waren. „Nie wieder“ bedeutet nicht nur „Nie wieder Holocaust“, sondern auch nie wieder Ignoranz, Intoleranz und Hass in der Weise, wie es ihn bereits von 1930 bis 1945 gab.
Um daran zu erinnern, gibt es, wie auch in Kiel, die Stolpersteine. Jedes Mal, wenn euch einer begegnet, könnt ihr ihn in der App scannen und sogar Blumen dazulegen oder eine virtuelle Gedenkkerze anzünden. Ziel ist und bleibt, aufmerksam zu erinnern und vor allem nicht zu vergessen.
Infokasten:
Der Nationalsozialismus beschreibt eines der schlimmsten Themen der Weltgeschichte. In der Nachkriegszeit fiel es aufgrund von vielen Unsicherheiten in Bezug auf die Quellen- und Informationslage erstmal schwer, sich in der Zeit von circa 1930 bis 1945 sachlich und wahrheitsgemäß zurecht zu finden. Diese Streitigkeiten gab es sowohl zwischen Historiker*innen als auch zwischen Bürger*innen. Heute gibt es sehr viele Informationen zu dem Thema dank stabilen inländischen und ausländischen Aufzeichnungen und den Aufarbeitungen von Historiker*innen, die eine Nicht-Existenz des Holocausts ausschließen. Sie zeugen von unglaublichen, absurden und unmenschlichen Taten der Nationalsozialist*innen, von staatlich geplanten und legitimierten Ermordungen und von dem Verlust unzähliger Menschenleben.
Svea studiert Geschichte und Politikwissenschaft im Profil Fachergänzung. Sie ist seit November 2023 Teil des Albrechts und seit Januar 2024 übernimmt sie die Leitung für den Gesellschaftsteil. Neben Texten über aktuelle Politik, schreibt sie auch sehr gerne über historische Themen.
Emma studiert Geschichte und Deutsch im Profil Fachergänzung. Sie ist seit November 2023 beim Albrecht dabei.