Stundenlang Schlange stehen, die Arme voller Ordner, Papier und Ungeduld. Immer in Gedanken hoffend, das Exemplar auch noch im tadellosen Zustand vorzufinden. Hier ist nicht etwa die Rede vom Einkauf während der Stoßzeiten oder einem gerade herausgekommenen Buch. Nein, so könnte die Realität für viele Studierende aussehen, die zukünftig am Kopierer ihre Seminartexte selbst zusammenstellen müssen statt einen Online-Reader zur Verfügung gestellt zu bekommen.
Das Ganze hat mit einem im Oktober 2016 geschlossenen neuen Rahmenvertrag zwischen der VG Wort, also der Verwertungsgesellschaft Wort für Autoren und Verlage sowie der Kultusministerkonferenz (KMK) zu tun, nach welchem die Universitäten ab 2017 pro genutztem, digitalisierten Skript eine Gebühr an die VG Wort zahlen sollten. Denn an den meisten Universitäten werden unterschiedliche Online-Plattformen, wie beispielsweise OLAT oder Moodle, eingesetzt, in welchen die Studierenden innerhalb ihres Kurses mit den wöchentlich vorzubereitenden Seminartexten versorgt werden. So hat jeder Student gleichermaßen die Möglichkeit, jederzeit auf die Unterlagen zuzugreifen. Rechtlicher Status quo war bis zu diesem Zeitpunkt eine Regelung, nach der jede Universität nur einen Pauschalbetrag pro Jahr an die VG Wort bezahlt. Doch mit der Begründung, die Rechte der Urheber stärken zu wollen, forderte die VG Wort schon länger eine neue Praxis.
Die geltenden Nutzungsregeln für urheberrechtlich geschützte Werke erlauben eine Verwendung von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, Texten von maximal 26 Seiten sowie bis zu zwölf Prozent der Seiten eines längeren Werks pro Lehrveranstaltung. Letzteres darf dabei allerdings 100 Seiten nicht überschreiten.
Der Bundesgerichtshof urteilte schon 2013, dass die Universitäten stattdessen die benutzte Literatur jeweils einzeln bei der VG Wort anmelden und bezahlen sollten. Auf dieser Grundlage gingen die VG Wort und die KMK im Oktober 2016 einen neuen Rahmenvertrag ein, welcher die Gebühr jeder Werknutzung in Zukunft nach folgender Formel berechnen soll: „Seiten x TN (Teilnehmer)-Zahl x 0,8 Cent.“ Ausgenommen davon bleiben nur Digitalisierungen, welche innerhalb der Universitätsbibliothek schon lizensiert vorliegen. Nur falls eine elektronische Version noch nicht existiert, darf überhaupt erst eine neue Digitalisierung erstellt werden. In der Gebührenregelung nicht inbegriffen bleiben allerdings Vorlesungsskripte und -folien, weil diese als selbst erstellte Inhalte gelten. Verboten ist dabei jedoch die Nutzung von fremden Abbildungen, was gerade in nicht-geisteswissenschaftlichen Studiengängen ein zentrales Problem darstellt. Damit einher würde dann auch eine Kontrollbefugnis für die VG Wort gehen, welche gestützt durch eine Zugangsberechtigung für die Lernplattformen der Universitäten, erreichen soll, dass die Einhaltung der Regelungen gewährleistet wird.
Viele Dozierende sind von der Vorstellung wenig begeistert, in Zukunft durch einen bürokratischen Mehraufwand noch weniger Zeit in die Lehre investieren zu können und kündigten an, dann lieber wieder auf Digitalisate zu verzichten und die Studierenden Literaturangaben selbst zusammenkopieren zu lassen.
Gleiches könnte passieren, wenn die Universitäten den Rahmenvertrag nicht unterzeichnen; denn dann verlieren die Dozierenden das Recht, überhaupt noch Texte online stellen zu dürfen. Genau das zeichnete sich Ende 2016 ab, bis zu welchem Zeitpunkt sich die Landesrektorenkonferenzen (LRK) von Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen geweigert hatten, den Vertrag zu unterzeichnen und statt der Pauschal- und Einzelabrechnung auf die Suche nach einer dritten Lösungsmöglichkeit pochten.
Im Dezember kam dann die erlösende Nachricht, dass genau diese dritte Lösungsmöglichkeit mithilfe einer Arbeitsgruppe bestehend aus Vertretern der Hochschulrektorenkonferenz, KMK und VG Wort nun bis 30. September 2017 gefunden werden soll. Damit einher geht auch die weitere Nutzungsberechtigung von digitalen Semesterapparaten nach der bisherigen Regelung. Somit rückt die Horrorvision von einem Rückfall in das Kopier-Zeitalter für Studierende und Dozierende erst einmal wieder einige Monate in die Ferne.
Lena war von 2014 bis Februar 2017 Teil der Redaktion. Von Juni 2014 bis Februar 2017 war sie die stellvertretende Chefredakteurin des ALBRECHT und somit zuständig für Finanzen und Anzeigen.