Ein kompliziertes Thema liebevoll verpackt
Mit dem älteren Bruder in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, ist nicht immer einfach. Besonders dann nicht, wenn er mental erst drei Jahre alt ist. Der 22-jährige Barnabé, genannt Simpel, ist geistig behindert und stellt durch seine naive, aber liebenswerte Art das Leben der Mitbewohner regelmäßig auf den Kopf.
Die Geschichte von Simple und seinem Bruder Colbert und was die skurrile Wohnsituation alles mit sich bringt erzählt Marie Aude-Murail in ihrem 2004 erschienen Jugendroman. Die Mutter der beiden verstarb früh, der Vater war mit der Behinderung seines Sohnes überfordert, steckte Simpel in ein Heim und gründete eine neue Familie. Der fünf Jahre jüngere Bruder holt ihn aus der Einrichtung heraus und gemeinsam ziehen die Brüder in eine Pariser Studenten-WG. Obwohl ihre neuen Mitbewohner zunächst Vorbehalte haben, schließen sie Simpel schon nach kurzer Zeit ins Herz und lernen seine kindliche Art und Direktheit lieben.
Denn der junge Mann sorgt für allerhand Abwechslung. So schieben sich nicht selten zwei Hasenohren über den Rand des Frühstückstisches. „Kuckuck“, sagt Simpel dann und Monsieur Hasehase kommt zum Vorschein. Das Plüschtier ist sein treuester Gefährte und stiftet Simpel zu allerhand Erkundungstouren in die Zimmer der anderen oder zu kleinen Mutproben an. Die zwei stellen eine Menge Unsinn an und der ohnehin furchtbar komplizierte Alltag und das Liebesleben der jungen Erwachsenen werden durch Simpels Neugierde noch mehr auf den Kopf gestellt. Besonders Colbert wachsen das Durcheinander und die Verantwortung langsam über den Kopf. Ob es vielleicht doch das Beste wäre, Simpel wieder in das Heim zu geben, fragt er sich?
Die Studenten und Colbert durchleben den ganz normalen Wahnsinn des Alltags, eine unerreichbare Liebe, versteckte Talente, kleine Laster und dann noch Konflikte mit den Eltern. Während es für die einen drunter und drüber geht, scheint Simpel nach der Zeit im Heim endlich angekommen zu sein. War zunächst noch Monsieur Hasehase sein einziger Vertrauter, der ihn dazu anstiftet nach dem bösen „Mänzel“, das ganz sicher in Colberts Handy wohnen muss, zu suchen oder auch einmal das Rauchen auszuprobieren, wird Simpel immer fester in das Leben seiner Mitbewohner integriert.
Es geht um das Unabhängigwerden, Anderssein, aber auch um Verantwortung und die Frage, ob Simpel wirklich so anders ist. Die Ideen und Bemerkungen des großen Kindes bringen den Leser ein ums andere Mal zum Schmunzeln. In dem Roman wurde ein kompliziertes Thema liebevoll und kurzweilig aufgearbeitet. Lebendig wird die Geschichte durch die vielen kleinen Dialoge. So wird sehr unterhaltsam und warmherzig illustriert, welche Verantwortung Colbert für seinen behinderten Bruder übernimmt. Die Ablehnung und Vorurteile gegenüber einem geistig Behinderten sind ein Problem, das in der breiten Öffentlichkeit gerne ignoriert wird. Der Roman zeigt aber, wie die Freunde und Mitbewohner Simple als Menschen kennenlernen, der ebenso wie sie ganz alltägliche Hürden zu meistern hat.
Schön ist, dass der Umgang mit einer geistig behinderten Person nicht nur aus einer Perspektive dargestellt wird, sondern dass dem Leser in kurzen Szenen sowohl die Gedanken und Gefühle der Mitbewohner und die Sorgen des Bruders sowie die Wünsche und Ängste von Simpel nahegebracht werden. So wechseln sich spannende Momente mit lustigen und traurigen Handlungsabschnitten ab und Marie Aude-Murail verleitet den Leser durch ihren spritzigen und flotten Schreibstil dazu, einfach immer weiterzulesen.
Zu Recht wurde die Autorin 2008 für diesen Roman mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Die Jury lobte die realitätsnahe und komplexe Handlung des Romans, der versteckt hinter einer unterhaltsamen Geschichte Gesellschaftskritik übt.
2017 lässt sich Simpel noch einmal neu erleben. Anfang November kommt der gleichnamige Film in die Kinos. Angelehnt an den Roman zeichnet eine deutsche Besetzung unter der Regie von Markus Goller die Abenteuer von Simpel, Colbert und Monsieur Hasehase nach.
Bildquelle: Mit freundlicher Genehmigung vom S. FISCHER Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2013
Alexandra studiert Biochemie und Molekularbiologie. Sie ist seit Oktober 2016 beim Albrecht als Redakteurin aktiv, schreibt über Hochschulforschung oder gibt im Gesellschaftsressort ihre Meinung zum Besten und beim Layout und Design der Zeitung hilft sie gerne aus.