Den Meisten von uns ist gar nicht bewusst, in welch einer sagenumwobenen Lebensphase sie sich befinden. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass wir nicht zugleich zwanzig und fünfzig sein können. Zeit ist schon eine vertrackte Sache; besonders, wenn man ihr hinterhersieht. So überrascht es einen Erzähler beim Erzählen nicht selten selbst, welch glorreiches Leben einmal das Seine gewesen sein soll. Die Geschichten eines wahrhaft stolzen wie innerlichen Akademikers von seinen einstigen Reifejahren an der ehrwürdigen alma mater stellen stets ein ganz besonderes Juwel in der Sammlung autobiographischer Abenteuerromane seiner Erinnerung dar.
Da kann man von der großen Unbeschwertheit, den unzähligen durchzechten Nächten, der Fahrradtour an den Bosporus, der illegalen Feier auf dem Institutsdach, der Hausbesetzung, dem politischen Kampf oder dem leidenschaftlichen Scheitern als Künstler hören. Beim Frühstück wurde ständig über Freud, Einstein oder Nietzsche debattiert. Durch materielle Beschränktheit musste das Leben improvisieren und laufend Schränke in Straßenbahnen transportieren, dem Nachbarn Heizkohle klauen, wochenlang nur Nudeln essen oder in zwielichtigen Vierteln Überfälle abwehren. Freiheit und Unbeständigkeit waren einem die einzigen Begleiter. Es war noch ungewiss, in welchem Bett man morgen aufwachen würde, welche genialen Erfindungen sich in einem anbahnten oder ob man bald Bolivien an Che Guevara‘s Seite befreien könnte.
Als artige Zuhörer staunen wir nicht schlecht über so ein Studentendasein. Doch uns beschleicht auch das Gefühl, dass es in Geschichten etwas gibt, was im erlebten Leben leider nicht existiert.
So vermag es der gesetztere Geisteswissenschaftler mit Weitblick, seiner Vergangenheit problemlos historische Dimension zu verleihen. Seit damals hat er verinnerlicht, dass Geschichte etwas wie eine überpersönliche Person ist, die träumt, schwankt, irrt, leidet und überwindet. Das Bewusstsein, Teil solch eines großen „dialektischen Voranschreitens“ zu sein, verleiht seinem Leben geradezu metaphysische Bedeutsamkeit. Geschichten werden umso schöner, je mehr sie Geschichte sind: Da wird die Studentenzeit gern zum Kulminationspunkt einer ganzen Epoche stilisiert. Jede Entscheidung, Brötchen holen zu gehen, wird als ideengeschichtlicher Niederschlag eines Zeitgeistes gewertet. Oft ist auch von einer „Generation“ die Rede; eine Floskel, die zur Bedeutungssteigerung der Clique des Protagonisten dient und ihre Gedanken als die einer Allgemeinheit ausgibt.
Am Ende reißt uns der Geduldsfaden bei allen diesen Geschichten. Warum können wir nichts davon in unserem Alltag finden? Wir sind doch die Studenten!
Vielleicht müssen wir noch dreißig Jahre warten…
Oder aber, wir suchen jetzt weiter, schauen genau hin. Und dann leben wir wirklich ein Leben wie es im Buche steht!
Felix studierte Physik des Erdsystems und Philosophie an der CAU. Von April 2013 bis Juli 2014 war er Leiter des Hochschulressorts. Besonders gern widmete er sich wissenschaftlichen oder kulturellen Themen.