Auf der Suche nach der knappsten Abgabe

Dem regnerischen Wetter ist diesen Freitagabend nicht anzusehen, dass schon morgen das Sommersemester beginnen wird. Es ist der 31. März 2023, kurz vor 23 Uhr. Manchen Studierenden stellen sich vielleicht die Nackenhaare auf, wenn sie dieses Datum hören. In knapp einer Stunde müssen alle regulären Arbeiten des Wintersemesters abgeben sein – sofern keine Verlängerung beantragt und auch genehmigt worden ist. Wer so spät abgibt, muss mit einem Zeitstempel beweisen, dass die Arbeit rechtzeitig eingegangen ist. Und den kriegt man nur an einem Ort. 

Christian Gerhardt sitzt mit seinen Kollegen in der Hauptpforte und schaut auf eine mit Umschlägen gefüllte gelbe Kiste. Der freundlich ausschauende Mann hat schon während seines eigenen Studiums hier gejobbt, nun ist er Mitarbeiter im Gebäudemanagement. Normalerweise koordiniert er das Geschehen der Hauptpforte aus der Ferne, heute Abend ist er jedoch selbst vor Ort. Es steht eine der stressigsten Stunden des Jahres bevor. 

„Bis jetzt sind 280 Umschläge eingegangen, die müssen alle dokumentiert werden. Wir tragen die Verantwortung dafür, das macht es etwas stressig“, sagt Christian, während ein Student hereinkommt. Mit einem genauen Blick prüft einer der Mitarbeiter, ob alle relevanten Informationen auf dem braunen Umschlag vermerkt sind. Während der Kommilitone sichtlich erleichtert aus der Tür geht, wandert seine Arbeit an einen anderen Kollegen weiter, der nun die genaue Uhrzeit der Abgabe vermerkt. 

Die Mitarbeiter sind dabei, wenn den Studierenden die Last der Abgabe von der Seele fällt. „Die meisten sind sichtlich froh, es endlich hinter sich zu haben. Manche kommen aber aus dem Stress nicht so schnell raus.“ Hin und wieder würden auch kleine Grüppchen vor der Tür auf die erfolgreiche Abgabe anstoßen. Andere wiederum drücken ihre Entlastung ganz anders aus: „Vorhin ist einer rausgegangen und hat vor Erleichterung gebrüllt“, erzählt Christian lachend. 
 

23:05: Die Frequenz, mit der Studierende in die Hauptpforte eilen, nimmt merklich zu. Zwei Studentinnen treten ein und durchwühlen auf dem Tresen ihre Arbeiten. Amelie, die Geographie und Wirtschaft/Politik auf Lehramt studiert, muss einen Stundenentwurf abgeben. „Ich war die ganzen Ferien unterwegs und hatte dafür nur zwei Tage Zeit“, meint sie und wirft einen letzten Blick auf den Umschlag. Ob sie glaubt, dass sie bestehen wird? „Ich verweigere die Aussage.“ 
 

23:19: Während zwei Studenten ihre Arbeiten sortieren und nach einem Locher fragen, betritt Daniel die Hauptpforte. Der Student, der Philosophie und Politikwissenschaft im neunten Semester studiert, möchte eine Hausarbeit über Ludwig Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung abgeben. Daniel weiß, wieso er so spät dran ist: Prokrastination. „Ich habe seit vier Wochen daran gearbeitet und trotzdem 80 Prozent in der letzten Woche niedergeschrieben.“ Dafür sei er zuversichtlich, mit seiner Hausarbeit bestehen zu werden. Müde schlendert Daniel nach Hause. Kurz darauf hört man eine Studentin klagen, dass niemand in ihrem Wohnheim ihre Arbeit drucken wollte. 
 

23:44: Ein Student springt aus seinem Auto und eilt in die Hauptpforte. Miles, der Philosophie und Geschichte studiert, muss eine Take-Home-Klausur abgeben. Dafür ist er aus Schleswig hergefahren. Wieso erst jetzt? „Ich glaube, ich brauche diesen Reiz“, sagt er und schnorrt sich eine Kippe vom Sicherheitsmann Hassan. „In den letzten Minuten schreibe ich einfach am besten.“  

23:51: Die Spannung steigt. Wer wird dieses Semester auf den letzten Drücker abgeben? Zwei Menschen kommen in die Hauptpforte geschossen. Merel, die Philosophie und Anglistik im ersten Semester studiert, muss neben zwei Protokollen auch eine Hausarbeit abgeben. Begleitet wird sie von ihrem Kumpel Frederik. Während sie in Zetteln wühlt, frage ich, wieso sie in den letzten Minuten abgibt. „Weil ich aus Rendsburg komme, gerade umziehen musste und scheiße in Zeitplanung bin.“ Sie hat eine Packung kleiner Umschläge dabei, für die Protokolle reicht das, für die Hausarbeit leider nicht. Weil die Hauptpforte auch keine hat, klebt Merel mit Kreppband die blaue Mappe zu, in der sie die Arbeit transportiert hat. Das muss als Umschlag reichen. Zwei Minuten vor Schluss wird der Zeitstempel versehen. Es ist die 194. Abgabe seit Schichtwechsel um 18 Uhr. Merel hat es geschafft: Sie ist die letzte Studentin, die dieses Wintersemester in der regulären Zeit abgegeben hat. Für diese Leistung haben sie und Frederik einen Sekt verdient. Zufrieden treten die beiden den Heimweg an.  
 

00:05: Leider haben nicht alle so viel Glück. Kurz darauf kommt eine Studentin zögerlich herein und gibt einen Umschlag ab. „Können Sie so tun, als wäre das vor fünf Minuten eingegangen?“, fragt sie leise. Ein Sicherheitsmann erklärt, dass dies nicht möglich sei. „Häufig wird gebettelt, manche haben auch schon Geld angeboten. Aber wir können da nicht helfen“, erzählt mir Christian. Kurz darauf betritt Max die Hauptpforte. Der Philosophie– und Biologiestudent wirkt überraschend entspannt, als er seine Hausarbeit einreicht. „Ich hoffe, dass ich damit noch durchkomme. Ich bin nämlich im Drittversuch. Aber ich glaube, der Prüfer ist recht entspannt.“ Wir wünschen Max vom ganzen Herzen, dass er ein Auge zudrücken wird! 

Autor*in

Jebril ist 22 Jahre alt und studiert seit einer gefühlten Ewigkeit Philosophie und Anglistik. In seiner Freizeit fotografiert er gerne, verbringt Zeit mit seinen Freunden, spielt gerne Schach und ist leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Beim Albrecht ist er für das Ressort Hochschule tätig.

Share.
Leave A Reply