Zwischen all den Schlagzeilen des vergangenen Jahres ist eine bei vielen untergegangen – und das trotz ihrer historischen Bedeutung. Eine neue Studie von Dezember 2020, die im renommierten Fachmagazin Nature veröffentlicht wurde, hat gezeigt, dass die von Menschen hergestellte Masse mittlerweile weitestgehend der natürlichen Masse unserer Tier- und Pflanzenwelt entspricht – und sie künftig übersteigen wird. Diese Erkenntnisse sind nicht nur ein symbolischer Ausdruck unseres immer größer werdenden ökologischen Fußabdrucks auf dem Planeten. Sie sind auch ein Appell, uns der Verantwortung bewusst zu werden, die wir gegenüber unserer Erde haben.
Der SPIEGEL spricht von einem „welthistorischen Moment“: Die Gesamtmasse aller Lebensformen der Erde wurde im Jahr 2020 erstmals von der Menge menschengemachter künstlicher Materialien – wie Beton, Glas, Ziegelsteinen, Plastik oder Klamotten – eingeholt. Zukünftig werde deren Masse die natürliche Biomasse überholen; ein Rückgang ist nicht zu erwarten. Es gab zwar immer wieder Versuche, den Einfluss des Menschen auf das Ökosystem an harten Zahlen festzumachen, eine solche umfassende Studie zum Mengenverhältnis menschgemachter und natürliche Substanzen ist aber bisher einzigartig.
Pro Kopf mehr künstliche Masse als Körpergewicht – in einer Woche
Die Wissenschaftler:innen hatten die Ergebnisse mehrerer, voneinander unabhängiger Datensätze über künstliche und biologische Masse zusammengetragen und gebündelt. Die unbelebte Materie, also der weitaus größte Teil unseres Planeten, der sich in Form von Gestein und Metallen in und unter der Erdkruste verbirgt, klammerten sie dabei aus. Die Daten wurden über einen Zeitraum von über hundert Jahren erfasst und gegenübergestellt. So ließen sich Veränderungen zwischen den zwei Größen abbilden.
Die Ergebnisse sprechen in ihrer Drastik für sich: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprach das Gewicht menschengemachten Materials mit etwa 35 Milliarden Tonnen knapp drei Prozent der weltweiten Biomasse. Jetzt, hundert Jahre später, ist sie 30-mal höher – sie liegt nun mit 1,1 Billionen Tonnen auf dem Niveau der Biomasse. Jedes Jahr wird jetzt so viel synthetische Materie neu erzeugt, wie noch vor hundert Jahren insgesamt weltweit existiert hat. Das bedeutet auch, dass wir in zwanzig Jahren bei dem Doppelten der relativ stabil bleibenden Menge des Tier- und Pflanzenreichs angekommen wären – ein Beispiel für einen exponentiellen Wachstumsverlauf.
Um sich die ungeheuren Zahlen, um die es hierbei geht, besser vorstellen zu können, hilft ein einfacher Vergleich: Die Menge der globalen Biomasse, die sich innerhalb einer Woche durch Vegetationswachstum oder die Fortpflanzung von Tieren generiert, ist etwa so schwer wie das Körpergewicht aller Menschen auf der Erde. Dieses Verhältnis verändert sich, wenn die künstliche Masse jetzt immer größer wird. Dann kommen auf jede Person pro Woche mehr als ihr eigenes Körpergewicht an neu erzeugtem Material.
Die generelle Drohkraft solcher Zahlen ist die eine Sache, ihre tatsächliche Bedeutung für uns Menschen eine andere. Was also sagen uns solche Zahlen? Was fangen wir mit dem Wissen an, der lebenserzeugenden Kraft unseres Planeten künftig voraus zu sein? Es dürfte vor allem eines deutlich machen: Dass die Vorstellung, mittlerweile in einem neuen Erdzeitalter zu leben, dem Anthropozän als dem ‚Zeitalter des Menschen’, nicht so abwegig ist, wie einige meinen.
Anthropozän: Das Zeitalter des Menschen
Der Begriff des Anthropozäns ist noch relativ jung und hat bisher eher in populärwissenschaftlichen Zusammenhängen eine Rolle gespielt. Der Name ist abgeleitet von den altgriechischen Begriffen anthropos für „Mensch“ und zän für „neu“. Zän ist die traditionelle Endung früherer Abschnitte der Erdentwicklung wie dem Holozän, dem „Nacheiszeitalter“, in dem wir uns aktuell befinden. Der neue Begriff des Anthropozäns hat besonderen Symbolcharakter: Er soll vor dem Hintergrund aktueller Debatten auf den weitreichenden Einfluss unserer Zivilisation auf den Planeten aufmerksam machen. Deshalb ist der Begriff in der Forschung aber auch durchaus umstritten. Bisher handelte es sich bei ihm eher um einen politischen Begriff. Mittlerweile erscheint es aber naheliegender, auch in der wissenschaftlichen Praxis von einem neuen Erdzeitalter auszugehen. Immerhin werden unsere Hinterlassenschaften von Geolog:innen der Zukunft in Gesteinsschichten in der gleichen Weise nachzuweisen sein, wie jene der Dinosaurier und unserer direkten Vorfahren – in Form neuer Gesteine wie Beton oder Asphalt oder durch die radioaktiven Überreste von Atomkraftwerken.
Die Veränderungen, die unsere Spezies der Erde unterzieht, gehen an unserem Planeten nicht spurlos vorbei. Studien wie die eingangs vorgestellte geben uns konkrete Beweise dafür an die Hand. So konnte auch nachgewiesen werden, dass die Tierwelt durch die landwirtschaftliche Revolution vor 12 000 Jahren tiefgreifend verändert wurde. Dass unsere Vorfahren früher gerne einmal auf Mammuts Jagd machten, änderte an dem Kräfteverhältnis von Menschen- und Tierreich relativ wenig. Dann jedoch wurden wir ansässig und zogen in großem Stil selber Tiere hoch. Mittlerweile übersteigt die Biomasse der Menschen und ihrer Nutztiere jene aller noch lebenden wilden Säugetiere und Vögel um den Faktor 20, Tendenz steigend.
Natur vs. Kultur – ein Gegensatz in Auflösung
Unser westliches Denken unterscheidet zwischen Kultur und Natur – zwischen ‚uns‘ und der ‚Welt da draußen’. In Zeiten des Anthropozäns sind die Grenzen dieser beiden Begriffe gesprengt. Eine Natur, die nicht in irgendeiner Form vom Menschen beeinflusst, verändert, kontrolliert ist, gibt es schlicht nicht mehr. Das fängt vor der eigenen Haustür an, wo Mäuse und andere Tiere ihr natürliches Fressverhalten zugunsten der Abfälle aufgeben, die wir tagtäglich produzieren. Und es hört selbst nicht bei Naturschutzgebieten auf, die davon eigentlich ausgenommen sein sollen. Denn letztlich können diese überhaupt nur deshalb existieren, weil Völker es verfügt haben. Die Kontrolle der Umwelt durch den Homo Sapiens soll sie vor ihm selbst schützen. Eigentlich paradox.
Über einen ganz anderen Punkt ist dabei noch gar nicht gesprochen worden: den menschengemachten Klimawandel und die weitreichenden Folgen der Erderwärmung für alle Bestandteile der globalen Ökosysteme. Insektensterben, Gletscherschmelze, Korallenbleiche. Wir alle kennen die Begriffe, die Zeugen sind von einem rigorosen Umbau der natürlichen Ordnung.
Die neue Verantwortung
Leben bedeutet immer auch Veränderung und es ist wichtig, die stattfindenden globalen Umwälzungen nicht automatisch als schlecht abzustempeln. Wenn wir beginnen, wertneutral über den wachsenden Einfluss unserer Spezies nachzudenken, klärt sich auch die Sicht in Richtung Horizont. Aufhalten lässt sich der Klimawandel nicht. Er ist längst da. Jetzt geht es darum, was wir mit diesem Wissen und der daraus erwachsenen Verantwortung machen. Ein großer Teil dieser Arbeit wird es sein, unser gewohntes Verhältnis zur Natur neu zu bestimmen. Und uns die Frage zu stellen: Wie wollen wir in Zukunft leben?
- Wollen wir Naturschutzgebiete ausweiten und Waldrodungen stoppen oder wollen wir beginnen, Bäume auf Hausdächer zu pflanzen, so wie futuristische Städte wie Singapur es tun?
- Wollen wir anfangen, weniger zu konsumieren oder wollen wir auf die erlösenden Effekte nachhaltiger Technologien vertrauen?
- Wollen wir bedrohte Tiere schützen oder wollen wir bereits verlorene Spezies durch Robotik und Gentechnologie wieder anschaulich machen?
Eine richtige und eine falsche Antwort gibt es für diese Fragen nicht. Sie sind vielmehr dafür da, zu zeigen, was für eine große Verantwortung unserer und kommender Generationen bevorsteht. Natürlich braucht es einen gemeinsamen Kraftakt aller Länder und Völker, um die Auswirkungen des Klimawandels zu begrenzen. Aber wir sollten uns auch klar darüber werden, wie wir mit den Veränderungen umgehen können, die schon jetzt auf uns zukommen. Und dass es im Zeitalter des Anthropozän in unserer Macht liegt, über die Zukunft des Planeten zu entscheiden.
Frederik ist 25 Jahre alt und studiert an der CAU Gegenwartsliteratur und Medienwissenschaft im Master. Er ist seit April 2019 Teil der Redaktion des Albrechts.