Ein Kommentar von Mimke Teichgräber:
In der Beschreibung anderer Menschen taucht neben Adjektiven wie verrückt, wunderschön, lustig und sportlich gerne das Attribut ‚intelligent‘ auf. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich der Begriff Intelligenz fest etabliert und wird nicht mehr nur noch zur Beschreibung der kognitiven Leistungsfähigkeit, sondern oft auch als Wertung verwendet. Dabei haben wir keine genaue Definition des Begriffes, sondern eine ungefähre Ahnung von dessen Bedeutung. Unter Intelligenzforschern hat sich mittlerweile eine einheitliche Begriffserklärung etabliert, die Intelligenz etwa wie folgt beschreibt: Eine allgemeine mentale Fähigkeit, die unter anderem Planungsfähigkeit, Problemlösung, das Verstehen komplexer Ideen, Gedankenabstraktion und Erfahrungslernen beinhaltet, und sich statt Auswendiglernen eher im ‚Herausfinden‘ zeigt. Intelligenz gilt nun als psychometrisch, also in Tests, erfassbar und soll so unsere kognitive Leistung vorhersagen können. Intelligenzforscher weisen darauf hin, dass Intelligenz in manchen Kreisen gar als wichtigster postindustrieller Rohstoff gehandelt wird. Dies beruht auf den hohen Korrelationen von gemessener Intelligenzleistung und dem Lern- und Berufserfolg sowie der Reliabilität der Tests. Durch die valide Forschung hat sich eine konkrete Auffassung über Intelligenz innerhalb und außerhalb der Psychologie verfestigt. Darum können innerhalb dieser Forschung das Intelligenzkonzept kaum hinterfragt, und nur Erkenntnisse erlangt werden, die damit kompatibel sind. Interessanterweise trifft auf die Intelligenz damit der Begriff der Ideologie zu – eine erstarrte Lehrmeinung die Anspruch auf Wahrheit erhebt.
Genau deshalb bedarf es zum umfassenden Verständnis des Konstrukts anderer Perspektiven, Kritik und auch einer Auseinandersetzung mit der Historie. Intelligenzmessung begann 1905, als Alfred Binet und Théodore Simon den ersten Intelligenztest entwickelten, um förderbedürftige Kinder früh zu erkennen. Ihr Test war die Vorlage für heute angewandte Messungen zur Ermittlung des Intelligenzquotienten. Bereits während der Industrialisierung war nach Möglichkeiten gesucht worden, die Leistungsfähigkeit und Verwertbarkeit eines Menschen im besten Sinne der Gesellschaft zu erfassen. Seitdem haben sich die Forschung und parallel auch die Bildungsziele entwickelt und dabei einen Fokus auf die oben beschriebenen kognitiven Leistungen gelegt. Dies erklärt auch die hohen Korrelationen von Intelligenz und Berufserfolg, denn man formt uns auf unserem Bildungsweg dazu, in der Intelligenzmessung ähnlichen Tests gut abzuschneiden. Somit erheben Intelligenz und Berufserfolg am Ende Variablen zu ähnlichen Kompetenzen.
Trotzdem wird Intelligenz in unserer Gesellschaft als Indikator der Verwertbarkeit gesehen, der gewissermaßen unser Humankapital ermitteln soll. Um daraus auch den maximalen Nutzen ziehen zu können, gilt es unser Potential voll zu nutzen. Es wird immer selbstverständlicher auf Erfolg hinzuarbeiten, und bereits in der Grundschule lernen wir die Methodik dafür. Universität bedeutet immer mehr Leistungsdruck, wir folgen Lehrplänen, sammeln Credit Points und gute Noten, probieren nebenbei unseren Lebenslauf aufzuwerten und arbeiten darauf hin, uns danach gut in die Gesellschaft einzugliedern. Damit machen wir uns immer mehr zu einem Zweck für andere, für die Uni, den Arbeitgeber, den Staat, die Gesellschaft. Humboldt sagte einst: „Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit. Wenn aber ein Mensch lediglich auf fremde Forderungen und Anweisungen handelt, so] mögen wir bewundern, was er tut, aber wir verachten, was er ist.“ Obwohl zu seiner Zeit die Ausschöpfung von hochwertigerem Humankapital noch nicht wie in der heutigen Form durchgeführt wurde, kritisiert er genau diese Eingliederung in ein gut geöltes System, die heute schon im Kindergarten beginnt und durch Intelligenzmessung nur noch genauer erfolgen soll. Die Intelligenzforscherin Prof. Dr. Elsbeth Stern meint zum Beispiel, dass nur die intelligentesten 20 Prozent die Universität besuchen sollten. So würden Talente gefördert und ‚Unterqualifizierte‘ zurückgehalten. Außerdem solle die Entscheidung für weiterführende Schulen später erfolgen, und zwar wenn die Intelligenz als ausgereift und messbar gelte, um ‚angemessenere‘ Empfehlungen geben zu können. Es würde also immer präzisere Vorstellungen unseres Lebenswegs geben, denen wir in unserem Wunsch nach Erfolg immer blinder folgten. Damit ist die Gesellschaft auf dem besten Wege eine ausgereifte Meritokratie zu werden, bei der jeder den Platz einnimmt, der anhand seiner Leistung angebracht ist. Dies steht dem egalitären System entgegen, bei dem jeder Mensch nur durch sich selbst genau so viel wert ist wie jeder andere.
Eine fördernde Umwelt soll helfen unsere optimale Intelligenzleistung umzusetzen, was allerdings dazu führt, dass der Leistungsdruck schon im Kindesalter enorm ist. Es gibt mittlerweile Grundschulkinder mit Burnout, unter Studenten ist das bereits keine Besonderheit mehr.
Weil der Intelligenz so ein hoher Wert beigemessen wird, haben wir das Gefühl dem Phänomen als offensichtlich Betroffene beizuwohnen. So studieren nach dem Abi immer mehr junge Leute und Ausbildungen und Lehren verlieren in der Gesellschaft an Anerkennung. Wer Handwerker wird, der hat wahrscheinlich nicht das Zeug zum Akademiker, der ist wohl nicht intelligent genug. Humboldts Idee war eine andere: „Jede Beschäftigung vermag den Menschen zu adeln, ihm eine bestimmte, seiner würdige Gestalt zu geben.“ Seine eigentlich guten Gedanken sind mit dem heutigen erfolgsgeilen und effizienten Denken und Handeln kaum vereinbar. Die Ermittlung unseres Potenzials nimmt einen immer größeren Stellenwert ein, doch oft werden gute Schüler auch pauschal intelligent genannt, obwohl dies – wenn man Intelligenzmessung vertraut – natürlich eine völlig unbegründete Annahme ist. Deshalb ist Vorsicht mit der Verwendung des Begriffs geboten, vor allem aufgrund seines ideologischen Gehalts.Wenn wir unsere Ansprüche und Ziele selbst festlegen wollen, sollten wir die Relevanz der Intelligenz hinterfragen, und es jedem selbst überlassen, wie sehr uns ein psychologisches Konstrukt beeinflussen soll.
Studiert seit 2013 Psychologie in Kiel, und frönt dem ALBRECHT seit dem Wintersemester 2014/15, von 2015 bis 2017 als Bildredakteurin und von Januar 2017 bis Januar 2018 als stellvertretende Chefredakteurin.