Mit dem Jahreswechsel hat sich auch das große Jubiläumsjahr der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verabschiedet. Während sich das Unileben wieder normalisiert, stellt sich die Frage, was von den vielen neu entstandenen Projekten und Ambitionen bleibt und wie sich die nächsten 350 Jahre Kieler Universität gestalten werden. Dies machte sich auch ein Essaywettbewerb zum Thema, der im Sommer 2015 vom Philosophischen Seminar in Kooperation mit PerLe ausgeschrieben wurde. Bachelor- und Master-Studierende aller Fakultäten konnten ihre Gedanken zum Thema ‚Die kommende Universität‘ in Schriftform einreichen. Dabei ging es besonders um Freiheit in Forschung und Lehre und wie sich das universitäre Leben durch Technik und Fortschritt weiterentwickeln könnte, sollte und wird. Den Hauptpreis erhielt Alfred Paschek, Student der Philosophie und Literaturwissenschaft, dessen Essay in der Christiana Albertina veröffentlicht wurde. Ursprünglich ungeplant war die Vergabe eines Nachwuchspreises, doch Soziologie- und Philosophiestudent Maximilian Thieme überzeugte die Jury mit seinen Ideen und Ansätzen auf ganzer Linie. In seinem Plädoyer für ein Wir thematisiert er die Suche nach Verantwortung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und wirft die Frage nach der verloren gegangenen – oder noch nie dagewesenen – Gemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden auf. Dabei macht er deutlich, welche Chancen der gemeinsame „Strang, an welchem es der Hoffnung auf Bildung, wie sie sein sollte, wegen zu ziehen gilt“ bieten würde. DER ALBRECHT veröffentlicht hier exklusiv Thiemes Essay:
Maximilian Thieme: Plädoyer für ein Wir
Seit mittlerweile zwei Jahren kannst du dich nun selbst Student nennen und das tust du auch, jedoch heißt das nicht, dass du seit zwei Jahren das unverändert Gleiche darunter verstehst oder damit meinst. Schillernd neuartig und verlockend ungewiss stellten sich dir die Dinge während der ersten Wochen deines neuen Daseins dar: angenehm desorientiert bist du auf dem Campus umhergewandert, nur um dich zu verlaufen. Begierig hast du tausend Dinge in tausend verschiedenen Nachschlage-werken ausfindig gemacht, um zu wissen. Eulenhaft hast du nächtelang gewacht und gewacht, um zu verstehen. Von überall her drang das Neue auf dich ein, noch jetzt tut es das, und zwingt dich unwillkürlich, verstehen zu wollen. Dabei ist längst nicht mehr alles schillernd, was sich deine Aufmerksamkeit verschafft: protestierende Stu-denten, unterwegs mit unzähligen Bannern, welche über Geldmangel ihrer Universi-tät klagen, machen dich innehalten. Du musst widerwillig erfahren, dass die harten Teppichböden der Seminarräume eine bestenfalls dürftige Lerngrundlage sind. Und all diese Plakate und Flyer, die von einer kommenden Universität künden, lassen dich nach und nach die Makel deiner und eurer jetzigen Universität erkennen. Du hörst und liest also gemeinsam mit deinen Kommilitonen von Klagen über Bologna, von Perspektiven und Perspektiven, die in Wirklichkeit nur Wünsche sind und weiter von utopischen Visionen und deren eventuell möglicher Umsetzung… von Gedan-kenexperimenten. Der naive Glanz deiner frühen Tage als Studierender ist verloren-gegangen, während Desorientierung und das Ungewisse geblieben sind. Jetzt gehst du jenen schlanken Gang des philosophischen Seminars entlang, dich nicht länger fragend, wie du die Mensa finden kannst, dich nunmehr fragend, ob du im Dunst all dieser Fragen und Forderungen, die jene nach sich ziehen, erinnern kannst, aus ir-gendeinem Munde die konkrete Frage nach einem Wer?, nach einem Initiator, ja, nach einem Verantwortlichen gehört zu haben.
Wofür soll nun aber diese ominöse, erhoffte kommende Universität stehen? Gemeint ist damit eine „Freistätte der Wissenschaft“1, ganz der Vorstellung Wilhelm von Humboldts verpflichtet, welche sich der Fesseln der Ökonomisierung zu entledigen und der, nach Werner Hamacher, „Invasion des Staates in [jene] Freistätte der Wissenschaft“2 zu trotzen vermag. Gemeint ist eine Bildungsstätte, die tatsächlich bildet, die Forschung und Lehre als Privileg erachtet und der Sache selbst wegen praktiziert, statt sich, unter dem Joch kosten- wie nutzenorientierter Zwecksetzung leidend, selbst zu verlieren. Dies wäre eine Wiederkehr zu allzu lang vermisster Autonomie hinsichtlich der Gestaltung der eigenen Organisation und somit auch der Lehre und Forschung, der wissenschaftlichen, der bildenden Tätigkeit. Und dies wäre die Chan-ce, eine akademische Eigenverantwortung zu etablieren, die es möglich macht, tat-sächlich angemessen frei und intensiv zu wählen, zwischen Interessen und weiter Schwerpunkten und weiter entsprechenden Seminaren. Die kommende Universität, sie könnte dem mehr schlecht als recht ausgebildeten Generalisten auf Nimmerwie-dersehen sagen – und das sollte sie auch, denn dieser Generalist trägt keine Eigen-verantwortung. Er trägt einzig die Verantwortung, seinem Zweck gerecht zu werden und nicht seiner selbst. Unter einem latenten Identitätsdefizit leidend, steckt er sich folglich den billigen Schmuck stupide erlernter Fakten ans Revers und verschreibt sich nicht mehr als dem Fetisch des Zertifizierens und Klassifizierens seiner kapita-listischen Umwelt. Der wirklich Gebildete hingegen, kein Konsument und kein Mit-tel in Händen wirtschaftlicher Interessen, verantwortet sich vor sich selbst als kom-mendem oder gefestigtem Akademiker. Aus dieser bewussten und gewollten Selbst-verantwortung können dann eine ganz andere Motivation, ein ganz anderes Wissen, nämlich Expertenwissen, und ein ganz anderer Umgang mit diesem Wissen über sich selbst wie auch die Welt erwachsen. Soweit so gut, denkst du, der Weg muss von einer Universität, die Bildung als ein Werkzeug versteht (oder zu verstehen hat) zu einer Universität führen, die Bildung versteht, wie es Peter Bieri tut, als „ein[en] zweckfreie[n] Wert, ein[en] Wert in sich“3. So mag die Richtung vorgegeben sein, gewiesen von nicht mehr als Träumen – die Frage bleibt, wer für deren Umsetzung verantwortlich sein soll. Gewiss, diese Frage, die Frage nach dem Verantwortlichen des Wandels hin zur Eigenverantwortung ist gegeben, nur wieso wird sie nicht di-rekt, nicht konkret und nicht persönlich angesprochen? Denn das ist schließlich der Weg, den du als den einzig beschreitbaren vor dir siehst, weil du ohne das Überneh-men von Verantwortung keine Veränderung geschehen siehst.
Zu naiv wäre es, bei der Suche nach einer Lösung der universitären Misere zu versu-chen, deren Urheber zur Verantwortung zu ziehen, handelt es sich bei jenen doch nicht um Gelehrte, sondern vielmehr um selbsternannte Bildungsmanager, nicht greifbare Schatten fernab vom Campus, lediglich zu erahnen in ihren Büroräumen, wo ein Blick in den Spiegel mittels Zertifikaten und Auszeichnungen verschleiert wird. Auf wessen Schultern jene bereits erwähnte Verantwortung aus welchen Grün-den nun auch immer zu lasten hat, lässt sich eventuell eher begreifen, wenn man sich ein Bild der Bedeutung besagten gewichtigen Begriffes macht. Hans Jonas etwa mag sich seiner Zeit mit seinem erweiterten kategorischen Imperativ zwar auf den Aspekt der Technologisierung der Gesellschaft bezogen haben. Dennoch scheint sein Gebot, in Anbetracht der Tatsache, dass der entfesselte Prometheus dieser Tage im Gewand eines kalkuliert verwaltenden Bürokraten umhergeht, um sein eigenes Verderben wie das vieler anderer zu besiegeln, angemessen. „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“4 – das hat zugegebenermaßen einen Anklang, der mehr an die furchtsame Er-wartung todbringenden atomaren Regens denken lässt, als an das gegenwärtige Übel der Institution Universität. Und doch überkommt dich bei diesem Gedanken ein Ge-fühl, dass dir sagt, dass du den richtigen Weg anpeilst und dass Max Weber dich hierbei bekräftigt. Denn Max Weber vertritt die Ansicht, dass „nichts […] für den Menschen als Menschen etwas wert [ist], was er nicht mit L e i d e n s c h a f t tun kann.“5 Penibel muss hierbei darauf verwiesen werden, dass der von Weber ange-sprochene Mensch ein Wissenschaftler ist und noch viel penibler darauf, dass jene Leidenschaft eines praktizierenden Wissenschaftlers für ihn das unbedingte und un-ablässige Wollen des Widerlegtwerdens einschließt. Auch, und vor allem, weit über die eigene Schaffenszeit hinaus, denn schließlich gilt es der Sache, der Bildung zu dienen, nicht dem eigenen Ego. Ist eben dieser Aspekt nicht unerlässlich für wissenschaftliches Streben nach Fortschritt, für das philosophische Streben nach permanentem Erkenntnisgewinn, sofern man sich jenen noblen Idealen verschreibt? Die aktuelle Lage im Blick, sollte man sich diesen Idealen nur umso mehr verpflichten. In diesem Zusammenhang, im Sog dieser vorläufig einleuchtenden Gedanken gelangst du zu der Überzeugung, dass Dozierende, denen du und deine Kommilitonen tagein, tagaus eure beiden Ohren leiht, jene Verantwortung tragen, über die es sich mehr denn je den Kopf zu zerbrechen gilt. Schließlich sind sie es, die sich einst zur Maxime gemacht haben, genau diejenigen sein zu wollen, von denen Weber spricht – nämlich strebende Wissenschaftler. Aus genau diesem Grund, denkst du, tragen sie Verantwortung: zuerst einmal sich selbst und im möglicherweise gleichen Maße euch gegenüber.
Allerdings muss nun die Frage erlaubt sein: kann die Frage nach der Verantwortung so einfach, so einseitig zu beantworten sein oder verfällt man – sich aus der Pflicht nehmend (und somit unter Wert verkaufend) – nicht der Versuchung der so einfachen Abweisung von Verantwortlichkeit? Willst du und wollt ihr die Verantwortung denn wirklich so entschieden den anderen, den Dozierenden, zuschieben und darauf hoffen, dass sie hingebungsvoll für die Wahrmachung auch deiner und eurer Tagträume sich einsetzen, während ihr ihnen nicht einmal wortwörtlich konsequent dabei zuseht und -hört? Wer bist du als Studierender und wer willst du sein? Ein Studierender, so muss die Antwort lauten, sollte aufgeklärt und durchaus in der Lage sein, sich selbst verantworten zu können. Einst hat Immanuel Kant aufklärerisch gepriesen und proklamiert: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“6 Diese Mahnung fordert eine Aufklärung, wie die heutige Universität samt all ihrer Angehörigen ihrer bedarf. Eine angemessene Maxime für dich und deine Kommilitonen, für euch, und das völlig zu Recht. Denn für den Studierenden von heute, der in der trüben Grauzone seines Schaffenskontextes zuweilen desorientiert, zuweilen desillusioniert umherstreift, muss in einem durchaus Weberschen Sinne gelten: wenn der Schüler nicht besser ist als sein Lehrer, dann kann der Lehrer ein schlechter Lehrer sein, der Schüler aber ein unreflektierter Bulimie-Lerner, nichts weiter als ein sich bereitwillig der Ausbildung hingebender Konsument. Ein neuer Standpunkt offenbart sich samt einer anderen Art von Verantwortlichkeit: noch immer einem Ideal folgend, nicht aber nur einseitig, nicht länger lediglich lastend auf den Schultern einer einzelnen abgesonderten Kategorie, sondern auch auf deinen, auf euren noch schmalen Schultern.
Die Suche nach einem Verantwortungsträger scheint im universitären Kontext eine aufreibende, uneindeutige zu sein. Der Eindruck, sowohl Studierende als auch Dozierende hätten sich zu Jongleuren entwickelt, welche die Verantwortung, verkommen zu einer unliebsamen heißen Kartoffel, in hohen Bögen durch Seminarräume und über den Campus fliegen lassen, drängt sich auf. Fallen lassen will sie freilich keiner, ein Mindestmaß an scheinbarer Selbstbestimmtheit soll, wenn irgend möglich, gewahrt werden – doch wenn sich niemand ihrer annimmt, wie kann da Emanzipation mehr sein, als Gegenstand so manisch erwünschter Gedankenexperimente? Was aber, wenn Jonas, Weber, Hamacher und all die anderen dir und euch sagen, dass die Antwort auf eure Frage nicht im Entweder-oder zu finden ist? Was, wenn weder Studierende noch Dozierende allein sich dieser kolossalen, überbordenden Verantwortung annehmen sollen, gar müssen? Was, wenn deren ethische, aufklärerische und kritische Gedanken dir und deinen Kommilitonen wie auch den Dozierenden nahelegen, euch zu vereinigen in einem Kollektiv, welches im größtmöglichen Kontrast zu jener aktuellen von Hamacher attestierten Kollektivierung, die auf Quantifizierung und folglich Ökonomisierung giert, gedacht werden muss?7 Die Rede ist dann von einem Kollektiv, ja einer Gemeinschaft, die in der Lage ist, die Grenzmauern von wir und die anderen einzureißen und sich einer in diesem Fall hinderlichen Differenzierung zu entledigen. Es müsste nicht mehr die Rede sein von der Gruppe der Studierenden gegenüber dem Kollegium Dozierender. Die Rede wäre von einer Gemeinschaft, einem Miteinander, geeint durch ein gemeinsames Leid, geeint durch geteilte Bedürfnisse, Ideale und Visionen, durch einen einzigen Strang, an welchem es der Hoffnung auf Bildung, wie sie sein sollte¸ wegen zu ziehen gilt. Eine derartige Gemeinschaft könnte erkennen, dass ihre Universität anfangs lediglich als Bild unrettbarer Verwüstung schien, in Wirklichkeit aber nur in einen Zustand schläfriger Verwahrlosung gedriftet ist. Eine solche Erkenntnis könnte gleichbedeutend sein mit der Wiederkehr zu einer Kantischen Aufklärung, zu einer Weberschen Leidenschaft als auch zu einer allseitigen Reflektiertheit. Du bist überzeugt, diese Gemeinschaft könnte den Mut aufbringen, sich ihres Verstandes zu bedienen, und sich infolgedessen der Macht gewahr werden, mit Routinen und Lethargie zu brechen und ein Besserwissen zu erlangen; die Freiheit zu verschaffen, Verantwortung für sich selbst übernehmen zu können. Dies wäre das Szenario der Erleuchtung und gleichsam Stärkung der eigenen Macht.
So sehr hast du dich nun in die bedeutungsschwangere Welt der Verantwortung hineingedacht, um eine Antwort auf eure Frage zu ergründen. Du meinst, fündig geworden zu sein – fürs Erste –, bist dir jedoch darüber im Klaren, dass du soweit keine Gültigkeit deiner Gedanken für andere als dich allein beanspruchen kannst und willst es auch nicht. Denn du weißt, um es mit Adorno zu sagen, dass in deinem Versuch „die Utopie [deines] Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewusstsein [deiner] eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit sich vermählt [hat].“8 Und so soll es auch sein. Was du willst ist, dass ihr euch gemeinsam, als jenes neue Wir, der Verantwortung annehmt, deinen Versuch auf seine Rechtfertigung und eventuell gar auf seine Gültigkeit hin zu untersuchen.
1 Von Humboldt, Wilhelm, zitiert nach: Hamacher, Werner: Freistätte. Zum Recht auf Forschung und Bildung. In: Horst, Johanna-Charlotte et al. (Hg.): Unbedingte Universitäten. Was ist passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität. Zürich 2010, S. 219.
² Hamacher, Werner: Freistätte. Zum Recht auf Forschung und Bildung. In: Horst, Johanna-Charlotte et al. (Hg.): Unbedingte Universitäten. Was ist passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität. Zürich 2010, S. 222 [Hervorh. D. Verf.].
³ Bieri, Peter: Wie wäre es, gebildet zu sein? In: Lessing, Hans-Ulrich; Steenblock, Volker (Hg.): „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht…“. Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. München 2010 [2005], S.216.
4 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt M. 1984, S.36.
5 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. In: Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988 [1915], S.589.
6 Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung? In: Zehbe, Jürgen (Hg.): Aufsatz zu Geschichte und Philoso-phie. Göttingen 1994, S.20.
7 Vgl. Hamacher, Werner: Freistätte. Zum Recht auf Forschung und Bildung. In: Horst, Johanna-Charlotte et al. (Hg.): Unbedingte Universitäten. Was ist passiert? Stellungnahmen zur Lage der Uni-versität. Zürich 2010, S.226.
8 Adorno, Theodor W.: Der Essay als Form. In: ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt M. 1991, S25.
Leona ist seit Juni 2014 Teil der Redaktion und war von Dezember 2014 bis Februar 2017 Chefredakteurin der Print-Ausgabe des ALBRECHT. Anschließend leitete sie die Online-Redaktion bis Mitte 2018. Leona studiert Englisch und Französisch an der CAU, schreibt für verschiedene Ressorts der Zeitung und kritisiert Land, Leute, Uni und den Status Quo ebenso gerne wie Platten.