Brasilien auf der Schwelle zwischen Entwicklungsland und Industrienation

Für viele Fußballfans steigt in diesen Tagen die Vorfreude auf ein neuerliches Sommermärchen. In Brasilien jedoch, dem diesjährigen Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft, legt sich ein Schatten über das Sportereignis. Durch die Vergabe der Austragungsrechte wurden zwar Infrastrukturprojekte angeschoben und die Hoffnungen auf ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum geweckt, doch während der Vorbereitung des Landes auf die WM setzte die brasilianische Regierung unter anderem auch autoritäre Maßnahmen ein. Armenviertel wurden in den vergangenen Jahren mit Gewalt geräumt, um Platz für den Neubau von Stadien zu schaffen. Um andere solcher Slums zog man eine hohe Mauer, um sie von der Weltöffentlichkeit abzuschirmen.

Viele ärmere brasilianische Einwohner fühlen sich ausgeschlossen von der WM. Sie werfen der Regierung vor, dass nur Reiche von den Investitionen in die WM profitieren. Die Fifa sorgt sich unterdessen nur darum, dass viele Stadien nicht rechtzeitig zur WM fertig werden könnten. Die Unterschiede in der Gesellschaft Brasiliens sind stark ausgeprägt. Ein Großteil der Bevölkerung ist arm. Demgegenüber gibt es nur sehr wenige Reiche in dem Land. Auch die sozialen Programme der letzten Regierungen konnten an dieser Verteilung nur wenig verändern. Bei einem Teil der ärmeren Schichten haben jedoch höhere Löhne und bessere Wohnungen zu einem Anstieg der Lebensqualität geführt und eine neue Mittelschicht entstehen lassen, erzählt Paula Ferg. Die Doktorantin der Rechtswissenschaft an der CAU wurde in Brasilien geboren und und lebte bis vor zwei Jahren in dem Land. Viele ärmere Brasilianer seien unzufrieden damit, dass zwar Geld für die WM, aber kein Geld für das Bildungssystem vorhanden ist.

Brasilianer protestieren gegen schlechte Bildungsbedingungen und eine unterentwickelte Infrastruktur.  Foto: Tânia Rêgo/Agência Brasil
Brasilianer protestieren gegen schlechte Bildungsbedingungen und eine unterentwickelte Infrastruktur.
Foto: Tânia Rêgo/Agência Brasil

Die große Schere zwischen Arm und Reich ist immer wieder Anlass für Proteste. Erst im April griffen Bewohner eines Armenviertels eine bei Touristen beliebte Urlaubsgegend an. Das Militär musste in Favelas einrücken, weil die Polizei die Lage nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ursprung der Proteste war im vergangenen Jahr die Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel, die aufgrund des bereits bestehenden hohen Preisniveaus für viele Menschen nicht mehr hinnehmbar war. Zumal die Infrastruktur schwach ausgebaut ist und viele Verkehrsmittel in einem mangelhaftem Zustand sind. Viele Brasilianer sahen in Demonstrationen ein probates Mittel, um sich gegen die Missstände in der Gesellschaft aufzulehnen. „Mit dem Lebensstandard der Menschen steigt auch ihr Bewusstsein für ihr Recht auf Mitbestimmung“, analysiert die 27-jährige Paula Ferg.

Neben demokratischen Forderungen gibt es auch solche nach besserer Bildung. Gerade öffentliche Schulen sind schlecht ausgestattet. Die geringe Bezahlung lockt nur schwach ausgebildete Lehrer an öffentliche Schulen. Wer kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule, so Ferg. Daraus resultieren große Bildungsunterschiede, die für weniger gut ausgebildete Schüler zu großen Schwierigkeiten im weiteren Lebensverlauf führen. Viele Schüler von öffentlichen Schulen schaffen die Aufnahmetests an staatlichen Universitäten nicht. Doch nicht nur das Bildungssystem weist eklatante Mängel auf, auch das Gesundheitssystem schließt ärmere Bürger aus. Die Benachteiligung unterer Schichten zeigt sich auch an der Häufigkeit, Opfer von brutaler Polizeigewalt zu sein.

Die Politiker in Brasilien scheinen damit überfordert zu sein. Zwar ist das Land seit 1988 eine Demokratie und im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern relativ stabil, jedoch kämpft das politische System immer wieder mit Korruptionsfällen in Reihen der Regierung. Brasiliens rasant voranschreitender Wirtschaftsaufstieg in den letzten Jahren vollzog sich zu schnell. Viele wichtige Stufen im Übergang vom Entwicklungsland zur Industrienation wurden übersprungen. Bei der Modernisierung des Landes wurden vor allem der soziale Ausgleich, demokratisches Regierungshandeln und die Infrastruktur vernachlässigt. Dies gilt es in den nächsten Jahren nun nachzuholen, um sich nicht weiter von der Entwicklung zu einem Industriestaat zu entfernen.

Beitragsfoto: Isaac Ribeiro

Autor*in

Marcel Kodura ist seit Oktober 2010 als Redakteur beim Albrecht tätig. Er schreibt vor allem über gesellschaftliche Themen.

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