Auch während der Semesterferien will Euch DER ALBRECHT nicht im Stich lassen. Deshalb haben wir eine neue Kolumne ins Leben gerufen, in der unser Redakteur Paul wöchentlich über Kiel in den Semesterferien und seine Gedanken zum Hier und Jetzt, Damals und Dann berichtet. Unter dem Titel Auf jeden Fall vielleicht findet Ihr sie jeden Montag online. Viel Spaß beim Lesen!
Ich wohne einer Tankstelle gegenüber. Neben Zigaretten und Minzbonbons kaufe ich dort auch gerne mal Cola und andere Getränke; nicht aus Verlegenheit, sondern des Lerneffekts wegen. Ich bin der Meinung, dass ein Literpreis von 2,60 Euro mich auf lange Sicht davon abhält, mehr Cola und andere potenziell schädliche Getränke zu kaufen als unbedingt nötig. Allerdings hält mich der erhöhte Kaufpreis vor allem davon ab, mehr als Nudeln mit Ketchup zu essen: Ich spare immer im Nachhinein, verprasse erst, darbe später. Es ist mir geradezu unmöglich, dazuzulernen.
Neben diesem steten Quell der Frustration hat die Tankstelle mir gegenüber auch ein Gutes an sich. Sie ist Hort der Besinnlichkeit, der Tankwart ist immer zu einem Scherz aufgelegt und kommentierte so auch jüngst die zwei Flaschen Mate mit einem „Nachtschicht?“. Solche Kalauer bringen mich immer wieder zum Schmunzeln. Nicht etwa, weil sie lustig wären: sie sind es nicht. Sie sind vielmehr Ausdruck einer Frustration, die mir fremd ist. In ihnen höre ich Verzweiflung wegen eines eintönigen Nebenjobs, Schmerz ob der Ausweglosigkeit der eigenen Situation. Ich kann mich gut fühlen, dass ich mir Mate kaufe und mit einer Schachtel Kippen an meiner Seite die Nacht über lerne. Ich muss nicht stundenlang blöd lächeln während gehetzte Autofahrer sich über Spritpreise beschweren und Schokoriegel kaufen, die sie später in ihre leidgeprüfte Figur wemsen. Immerhin arbeitet der Tankwart nicht lange, er muss also nicht viel leiden: Die Tankstelle schließt jeden Abend pünktlich zur Nachtruhe um 22.00 Uhr und öffnet erst wieder um 6.00 Uhr, wenn man auch im eigenen Haus wieder Eros Ramazzotti auf voller Lautstärke spielen, Wäsche waschen und saugen darf. Die tankwärtliche Besinnlichkeit wird durch diese Eigenart nur noch verstärkt – der Ort, an dem man auch um halb vier Uhr morgens eine Tiefkühlpizza, Windeln und Halsbonbons bekommt, weigert sich, eben dieser Ort zu sein. Inmitten einer Großstadt, die diesen Namen nicht immer redlich verdient, ist an einer nachts kaum befahrenen Straße der Benzinverkauf nicht lukrativ genug. Tagsüber brennt die Hütte, die Tanke liegt immerhin an DER Straße zu und von der Kieler Universität. Blicke ich also um halb ein Uhr morgens aus meinem Fenster, sehe ich ein mittelholsteinisches Dorf vor mir: Ein betrunkener uriniert glückselig gegen die Ecke des Häuserblocks, auf der anderen Straßenseite besingen leicht alkoholisierte Mittzwanziger die Üppigkeit der weiblichen Form und werden von wild-wiehernd-kichernden Frauen im Klick-Klack der Deichmannpumps verfolgt. Außer den Straßenlampen gibt es kein Licht, die Tankstelle und der Fußballplatz hinter ihr liegen still im Dunkeln. Sobald der Tross vorbeigezogen ist, kann ich mir eine Zigarette genehmigen und setze mich dazu auf die Fensterbank. Der getunte Polo fährt noch eben mit gefühlten 180km/h die menschenleere Ausfallstraße gen Norden an meinem Fenster vorbei und endlich kann ich die Stille voll auskosten. Ich höre meine Zigarette brennen, so still ist es hier, zehn Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Es ist mir, wenn ich recht drüber nachdenke, etwas zu idyllisch hier. Fast höre ich Eric Carmen wie er mir ein gehauchtes All by Myself in die Ohren trällert. Es fehlt eigentlich nur noch der Steppenläufer, der durch die Szene rollt, ein Cowboykostüm treibe ich schon irgendwo auf. Nein, wartet: das war der falsche Film. Es ist nicht wirklich einsam, immerhin haben sich eben noch meine Nachbarn beschwert, dass ich zu laut schnarche: Ich bin also nicht alleine, aber es fühlt sich dennoch verdammt alleine an hier, inmitten der großen Stadt, das Universitätshochhaus im Blick, die geschlossene Tankstelle vor mir. Wie ein trotziger Marxist steht sie dort wider den Kapitalismus, eine innerstädtische Tankstelle mit Öffnungszeiten, Schlusszeiten, einer Nachtruhe. Einem reichen Sozialdemokraten gleich steht sie da, ein Paradoxon in sich selbst. Die Ölindustrie hat Wochenende, jeden Tag acht Stunden lang ist der kleine Kapitalismus nicht auf Arbeit, eine abstruse Idee, finde ich. Ich werde müde bei diesem Gedanken, meine Phantasie driftet ab zu einer Tankstelle in der Nähe von Löptin, die niemals schließt. Auf dem Land, denke ich, ist alles noch in Ordnung. Dort herrscht zwar keine Nachfrage, aber immerhin ein Angebot. Eine Tankstelle, die 2016 8784 Stunden geöffnet hat, für 316 Dorfbewohner im Kreis Plön – welch Idylle!
Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.