Wer trägt Schuld an Unterentwicklung?

Auf der Welt herrscht Ungleichgewicht. Weder in der Verteilung von Ressourcen noch zur Wettbewerbsfähigkeit von Staaten lässt sich sagen: Gleiches für alle. Diese Ungleichheiten haben verschiedene Ursachen, doch sicher ist, dass viele davon menschengemacht sind.

Schon während des Kolonialismus verfolgten Bewohner der ‚westlich-privilegierten‘ Welt das Ziel, Staaten außerhalb Europas zu ‚helfen‘. Religions- und Politikmodelle sowie Produktionstechniken und eine verbesserte Infrastruktur sollten ihren Weg in ‚unterentwickelte‘ Länder finden. Die Kolonialmächte wollten von den vorhandenen Bodenschätzen, Arbeitskräften und Absatzmärkten profitieren sowie ihre eigene Wirtschaftsmacht ausbauen. Dass der Lebensstandard in ‚unterentwickelten‘ Ländern verbessert werden sollte, war erst in postkolonialen Zeiten von Bedeutung, die ‚nachhaltige Entwicklungspolitik‘ entstand erst in den Neunzigerjahren.

Wie soll Ländern geholfen werden, deren Wirtschaft durch die Kolonialzeit geradezu zerstört wurde? Was tun gegen Probleme, die in ihrem Ausmaß niemals bei ehemaligen Kolonialmächten vorkommen würden? Um diese Fragen besser beantworten zu können, entwickelten zum Beispiel Soziologen im Laufe der letzten Jahrzehnte Entwicklungstheorien, die die Ursachen für Unterentwicklung näher betrachten sollen. Generell lassen sich diese Theorien in zwei große Ströme unterteilen: endogene und exogene Theorien.

Die endogenen Theorien besagen, dass Gründe und Ursachen für eine Fehl- oder Unterentwicklung innerhalb des Landes zu finden sind. Als mögliche Ursachen führt beispielsweise die Modernisierungstheorie traditionelle gesellschaftliche Werte an, die mit einer wirtschaftlichen Entwicklung nach westlichem Vorbild inkompatibel seien. Auch fehlende ‚good governance‘ und Korruption auf Staatsebene seien laut dieser Theorie endogen begründet. Das betroffene Land befinde sich in einem Stadium des gesellschaftlichen Wandels. Eine wirtschaftliche Entwicklung sei erschwert, da beispielsweise Clans und Sippen nach wie vor das gesellschaftliche Fundament bildeten. Ein gern genommenes Beispiel ist die Republik Kongo, die dank Misswirtschaft, Bürgerkriegen, Korruption und vollkommenem Versagen des Staatsapparates trotz eines hohen Vorkommens an Bodenschätzen zu den ärmsten und unterentwickeltesten Ländern der Welt zählt.

Bemerkenswert ist jedoch, dass der Kongo selbst über Jahrhunderte hinweg ausgebeutet wurde. Deswegen müssen auch die exogenen Theorien betrachtet werden. Diese gehen davon aus, dass die Ursachen von Entwicklungsproblemen von außen auf die jeweiligen Länder einwirken. Unter diesen Strom fällt die Dependenztheorie, die das Problem in den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Entwicklungsländern und Industriestaaten sieht. So führten postkoloniale Strukturen zu einer Zerstörung des Wirtschaftsgeflechts, die Handelsbedingungen verschlechterten sich zunehmend. ‚Gewinner‘ dieses Prinzips sind einzig und allein die (ehemaligen) Kolonialmächte.

Entwicklungstheorien sind deskriptiv. Es ist natürlich ein Anfang, zu wissen, warum es in einem Land ‚nicht rund‘ läuft. Eine Universallösung zur Überwindung von Armut, Hunger und Krankheiten bieten sie jedoch nicht. Es stellt sich immer wieder die Frage: Was haben wir von diesem Wissen? Es ist interessant, dass traditionelle Werte nicht mit einem Wirtschaftswachstum konform gehen oder dass durch ausländische Direktinvestitionen Gewinne eines Unternehmens doch wieder in Industrieländer fließen. Einen praktischen Nutzen können Helfende jedoch nicht sofort aus den Theorien ziehen. Stattdessen musste sich die Entwicklungshilfe ihren eigenen, steinigen Weg durch die Jahrzehnte, Regierungen und NGOs suchen. Angefangen in den Sechzigerjahren mit der Überzeugung, ‚unterentwickelten‘ Ländern fehle es lediglich an Kapital, durchlief die Entwicklungshilfe einen Wandel. Heute lautet das Motto ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ – Geld zustecken reicht eben nicht. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton gehört zu den schärfsten Kritikern von Entwicklungshilfe. Er ist überzeugt, dass sie oft mehr Schaden anrichtet als nützt. Ein Land, so berichtet er in der Neuen Züricher Zeitung, kann schlichtweg nicht von außen entwickelt werden. „Länder entwickeln sich von innen. Dazu braucht es eine Regierung und eine Bevölkerung, die gemeinsam auf Entwicklungsziele hinarbeiten. Das Problem mit der Entwicklungshilfe zeigt sich vor allem dort, wo externe Gelder einen sehr großen Teil der Staatsausgaben ausmachen, wie in vielen Staaten Afrikas. In diesen Fällen unterminiert Entwicklungshilfe systematisch den sozialen Kontakt zwischen Regierung und Bevölkerung.“

Im Sinne Deatons lässt sich schlussfolgern, dass nach wie vor die Abhängigkeit von Industrieländern der Grund für scheiternde Entwicklungshilfe ist. Eine Gleichheit zu erreichen, ist nach Betrachtung der Theorien und der momentanen Entwicklungshilfe schwer möglich. Trotz sechzig Jahren Entwicklungshilfe ist die Zahl der Failed States erschreckend hoch. Die Flüchtlings- und Migrationsströme zeugen von brodelnden Krisenherden weltweit. Ob die Ursachen hierfür nun endogen oder exogen begründet sind, ist doch eigentlich egal, wenn sich der Zustand nicht ändert.

 

Autor*in

Johanna schreibt seit Anfang 2015 vornehmlich für das Ressort Gesellschaft. Seit Februar 2017 ist sie Chefredakteurin des ALBRECHT. Sie studiert seit dem Wintersemester 2014 Deutsch und Soziologie an der CAU.

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