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Jede Generation hat ihre eigenen Helden. Was Harry Potter und Frodo Beutlin für die Jugend der 90er sind, das sind für meine Eltern die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand des deutschen Autoren Karl May. Diese haben spätestens mit den berühmten Verfilmungen der 60er Jahre von Harald Reinl mit Lex Barker und Pierre Brice in den Hauptrollen in vielen Kindern und Erwachsenen bis heute die Sehnsucht nach dem Wilden Westen heraufbeschworen. Das galt auch für mich: An Karneval verkleidete ich mich mal als „Cowboy”, mal als indigene Person.  

Als ich neuerlich bei einem Büchertausch nach kostenlosem Lesestoff Ausschau hielt, sprangen mir sofort die gesammelten Werke Karl Mays ins Auge. Seine Werke sind gesammelte Groschenromane, fallen also unter die „Trivialliteratur” und bieten keine besondere literarische Qualität oder Tiefe. Als ich aber die Werke so studierte, musste ich doch unweigerlich an meine Jugend denken und nahm sie mit. Zwar hatte ich die Bücher nicht gelesen, aber die Verfilmungen von Winnetou waren mir durch meinen Vater wohlbekannt: Die Wiederholungen an Feiertagen haben mich Abenteuer des Wilden Westens sowohl mit Playmobil, als auch mit selbstgebauten Bogen im Wald nachspielen lassen. 

In diesen Filmen wird ein Bild der indigenen Einwohner:innen des nordamerikanischen Kontinents gezeigt, welches bis heute die gesellschaftliche Vorstellung des Wilden Westens prägt. Weltbekannt geworden ist der Handschlag der beiden Blutsbrüder vor einem Canyon in der Weite der amerikanischen Prärie. Dabei wurden die Filme allesamt in Kroatien gedreht – ohne Beteiligung von Historiker:innen oder indigenen Amerikaner:innen. Aus heutiger, postkolonialer Perspektive ist der Dreh dieser Filmreihe absurd: Ein französischer und ein britisch-amerikanischer Schauspieler drehen unter einem deutschen Regisseur einen Film in Kroatien. Diese Fantasie bestimmt bis heute das Bild an Karneval und im Spielzeug-Katalog; von Thomahawk, Marterpfahl und Namen wie „Rote Feder“ oder „Häuptling Bärenpfote“, bis zum Playmobil „Tipi”. Der rassistische Begriff „Rothaut” wurde beispielsweise durch die Filme im deutschen Sprachgebrauch populär. Das angeblich endlose Freiheitsgefühl, das die beiden ungewöhnlichen Blutsbrüder vor dem Hintergrund endloser Weiten und Steppen simulieren, hat das Bild der deutschen Bevölkerung bis weit nach Mays Tod in die moderne Vorstellung der wilden, freien USA hinein geprägt. Auch die breite Nutzung einer rassistischen geläufigen Fremdbezeichnung indigener Amerikaner:Innen ist in großen Teilen May anzulasten, der den Begriff schlicht von Christoph Columbus übernahm. 

Als ich die Bücher nun näher betrachtete und darin blätterte, fiel mir auf, wie unlogisch die Geschichten sind. Jede:r Historiker:in und Geschichts-Student:in unter den Leser:innen wird dies auch bei einem Blick in die Werke Mays vollkommen klar: Zahlreiche Details passen überhaupt nicht in den historischen Kontext, sind schlicht unlogisch oder auch faktisch falsch. Begriffe entstammen anderen Regionen, anderen Stämmen oder sind Kauderwelsch. Werkzeuge oder Erfindungen sind anachronistisch und historische Persönlichkeiten vollkommen willkürlich charakterisiert.  

Ich begann zu recherchieren. Dabei bin ich zunächst auf die erwartbaren Grundinformationen gestoßen – Sätze wie „Karl May ist mit über 200 Millionen verkauften Werken in 40 Sprachen bis heute einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller:innen” las ich des Öfteren. Er wird 1842 geboren und hat schon in jungen Jahren eine erfahrungsreiche Kindheit. Von 14 Kindern ist Karl der Einzige, der die Jugend überleben wird. Im Alter von zwei Jahren erblindet May nach eigenen (aber nie bestätigten) Angaben für einige Jahre, bevor er auf wundersame Weise geheilt worden sein will. Kaum wieder sehend, zwingt ihn sein Vater, ganze Bücher abzuschreiben und wissenschaftliche Texte im Selbststudium zu erlernen. Er versucht sich nach seinem Abitur an einem Lehramtsstudium, doch wird er wegen Diebstahls exmatrikuliert. May beginnt folgend aus Ermangelung einer bürgerlichen Existenz und einer geregelten Arbeit eine „kriminelle Karriere“ inklusive Diebstahl, Betrug, Identitätsdiebstahl, Amtsanmaßung, Hehlerei und Hochstapelei. Im Gefängnis allerdings findet May zum Schreiben. Zahlreiche Werke werden hier von ihm erdacht und geplant. Einige werden später tatsächlich veröffentlicht, andere verworfen. Nicht nur mein Vater hat diese Werke gelesen – May hat irritierend diverse Fans. Neben Heinrich Böll, Hermann Hesse und Hans Fallada oder der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner sind die Werke ebenso in den Bücherregalen nationalsozialistischer Fanatiker:innen, Sozialdarwinist:innen und Kolonialverbrecher:innen zu finden. 

Die Zeit Karl Mays ist eine der Umbrüche: Aufkommende Technik, Züge, Hochhäuser und Stahlbrücken fesseln das Interesse der Menschen ebenso, wie durch Ausbeutung und Kolonialisierung erbeutete Güter wie Südfrüchte und Kaffee. Auch deshalb gilt der so bizarre wie kreative Autor in seiner Zeit als der meistgelesene der Welt. Mays Abenteuer einer fernen geheimnisvollen Welt des Wilden Westens der schier grenzenlosen Freiheit stoßen daher natürlich auf große Resonanz. Die „Reiseerzählungen“ versprechen echte Abenteuer aus erster Hand und das vor unbekannter Kulisse. May beschreibt den neugierigen Deutschen des Kaiserreichs die Ferne, die spannende Welt außerhalb des kleinen Lebens in den dicht besiedelten Arbeiterblocks der wachsenden Großstädte. Und May schreibt viel: neben der Winnetou-Trilogie erscheinen Werke, die auf dem Balkan, im Nahen Osten und Teilen Afrikas spielen. Die Sache hat allerdings einen entscheidenden Haken: May hat alle seine Welten vom Schreibtisch aus erfunden. Zwar hat er für den Kontext seiner Erzählungen oberflächlich recherchiert, verlässt aber 1908 im Rentenalter schwerkrank erstmalig das Deutsche Reich. Die Beschreibung der fernen Welt ist nichts als ein Produkt seiner Fantasie. 

Später trieb Karl May den Diskurs um seine Person auf die Spitze, indem er behauptete, er selbst sei Old Shatterhand und habe die Abenteuer tatsächlich erlebt. Ab den 1880er Jahren erklärte er, der unerschütterliche, mutige, wilde Abenteurer Old Shatterhand sei dieselbe Figur wie Kara Ben Nemsi in seinem Roman Die Reise des Mahdi’s. Hier verkörpert die Figur des deutschen Ingenieurs die weißen, meist immigrierten Siedler:innen der vermeintlich Neuen Welt ebenso, wie ihre rassistischen Vorstellungen von Zivilisierung und Herrenmenschenvorstellungen. Er ließ sich „sagenumwobene“ Gewehre und Gewänder teuer anfertigen, die heute nahezu allesamt noch existieren und trat fortan verkleidet als Kara Ben Nemsi auf. May erinnert mich an mein kindliches Selbst, das sich Bogen und Musketen baute, im selbstgebauten Zelt schlief, mit Kriegsbemalung im Gesicht.  

Seine Verlage griffen diese auch finanziell ertragreiche Marketingerzählung begeistert auf und strickten sie fort: Sie beantworteten Leser:innenbriefe entsprechend und porträtierten May als erfahrenen Reiseabenteurer, weswegen die Romane entsprechend als „Reiseromane“ oder „Reiseerzählungen“ tituliert wurden. Dies verlieh der erdachten Welt zusätzliche Authentizität. Diese angeblich authentischen Beschreibungen eines Autoren, der niemals in der dargestellten Gegend der Welt gewesen ist oder mit Menschen von dort gesprochen hat, sondern noch überhaupt keine Fremderfahrung gemacht hat und sich Ort, Handlung, Kontext und Raum nur ausdachte, prägten die deutsche Vorstellungen in einer Zeit, die wir spaßhaft „Cowboy und Indianer” nennen und damit koloniale Aneignung und Völkermord meinen. Und spätestens da hat sich der ehemalige Kinderheld selbst entzaubert.  

Jonas studiert Philosophie und Politikwissenschaft und ist seit 2020 Teil der Redaktion. Er ist gebürtiger Osnabrücker und schreibt über Gesellschaft, Literatur und alles, was spannend ist.

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